Re: Ein schönes Gleichnis für die Sinnfrage des Leids

Themenbezogene Diskussionen, die sich nicht nur auf eine Person beziehen; Ursachen und Auslöser für Depressionen und Daseins-Ängste; Bewältigungsstrategien bei Lebensmüdigkeit; psychische Krankheitsformen; Suchtkrankheiten; Alkohol-, Drogen- und Medikamenten-Abhängigkeit; Beziehungsprobleme

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OutofOrder
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Re: Ein schönes Gleichnis für die Sinnfrage des Leids

Beitrag von OutofOrder »

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philosoph1
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Re: Ein schönes Gleichnis für die Sinnfrage des Leids

Beitrag von philosoph1 »

salvation hat geschrieben: Mittwoch 22. November 2023, 22:16 Ein Auszug aus einem Text den ich gefunden habe - auch wenn mir bewusst ist, dass dieser Text in gewissen Krankheitszuständen und Situationen eventuell nur wenig hilfreich ist, wollte ich ihn trotzdem gerne teilen …

„Verwundete Austern
lassen aus blutigen Wunden
eine Perle entstehen.
Den Schmerz, der sie zerreißt,
verwandeln sie in ein Juwel.“

(Richard Shanon)

Zur näheren Erläuterung dieses Leitmotivs soll so etwas wie eine Kindergeschichte beitragen, in der eine erfahrene weise Auster einen kleinen Auster-Nachkömmling ins Leben einführt und ihn den Sinn seiner Existenz verstehen lassen möchte. Zusammengerafft klingt das dann so:

Unter den Austern, so erklärt die weise Alte dem Kleinen, gibt es eine besondere Art, die zur Gattung der Perlmuscheln gehört. Die Perlmuscheln empfinden diese ihre Zugehörigkeit wie eine Art Auserwählung, denn sie haben eine Kraft, die die anderen Muscheln nicht haben: sie können Perlen bilden. „Das ist unser großer Reichtum, aber auch unser großer Schmerz“, so lautet die Erklärung der Alten, „denn ohne Leiden und Schmerzen gibt es keine Erwählung.“

Es verhält sich nämlich so: wenn sich die Muscheln öffnen, um Nahrung aufzunehmen, dann kann es geschehen, dass trotz aller Vorsicht ein Sandkorn, ein winziger Stein oder ähnliches mit in das Muschelhaus gelangt. Und weil die Muschel selbst einen sehr weichen, verletzlichen Körper hat, ist das jeweils ein großer Schmerz, wenn sich so ein Sandkorn in ihr Fleisch eingräbt. Das Sandkorn wird nie mehr wieder nach außen hin abgestoßen, doch dafür beginnt nun eine wunderbare, geheimnisvolle Kraft zu wirken, so dass aus dem Sandkorn eine Perle werden und wachsen kann. Der Organismus der Muschel muss sich nun anstrengen, – schon zum eigenen Schutz – Säfte zu entwickeln und auszustoßen, die das Sandkorn immer mehr umhüllen, so dass auch die Schmerzen für die Auster im Laufe der Zeit erträglicher werden. Schicht auf Schicht wächst, und je länger das Sandkorn in der Muschel ist, desto schöner wird die Perle. Doch davon sieht niemand etwas, das wird erst sichtbar, wenn die Muschel tot ist. Dann zeigt sich, wenn man das Gehäuse öffnet, wie viele Sandkörner darin unter Schmerzen zu Perlen werden konnten und wie reich ein solches Leben war. Die Muschel selbst erfährt sozusagen nur die negative Seite dieses Werdens und erleidet den Schmerz des eindringenden Fremdkörpers. Aber würde sie den Schmerz des in sie eindringenden Korns nicht zulassen und ausgestalten, – würde sie sich erst gar nicht öffnen, – dann verfehlte sie den Sinn ihres Daseins, und ihr Leben bliebe arm und leer. Wenn aber der Schmerz, der in die Perlmuschel eindringt und sie verletzt, bejaht und angenommen wird, – wenn er gleichsam zu ihrem Leben gehört, – dann kann sich Verwandlung anbahnen und eine kostbare Perle entstehen. „Den Schmerz umwandeln in ein Juwel“ – in einem ersten Schritt: durch Annahme der Leiderfahrung und des Schmerzes.

Das alles kann uns ein Gleichnis werden bei dem Versuch, den Sinn von Leiden und Schmerzen zu ergründen, – auch wenn uns der Sinn letztlich verschlossen bleibt. „Ich weiß nicht um den Sinn dessen, was mich als harter Schicksalsschlag trifft“, so sagte einmal Dietrich Bonhoeffer zur Sinnfrage, „aber ich weiß um den, der den Sinn kennt.“
Fragt sich nur was überwiegt: Das Positive oder Negative?

Positives:
Dass es Leser dahin determiniert faktisch mehr Lebenssinn zu finden.



Negativ:
Dass es zynisch und realitätsblind ist. Wie jede `free-will defense` in der Theodizee schiebt es dem je Leidenden die Schuld zu seinem Leiden keinen Sinn abgewinnen zu können. (Resp. Schuld am Leiden anderer zu sein.)
(Dass kein inderminiert-selbstbestimmtes Wollen existiert, offenbart die Realitätsblindheit und den Zynismus solcher `Argumente`: Neoliberal gewendet: `Jeder ist seines Glückes Schmid`.)
Hurlinger
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Re: Ein schönes Gleichnis für die Sinnfrage des Leids

Beitrag von Hurlinger »

Hmm. Mir geht gerade etwas durch den Kopf.
Wir Menschen assoziieren eine Austernperle mit etwas sehr hübschem und wertvollen.
Was ist, wenn die Auster durch das eingeschlossene Sandkorn und den dadurch getroffenen Gegenmaßnahmen das Ganze als ein Krebsgeschwür empfindet, und ihr Leben lang darunter leidet und vielleicht auch damit nicht mehr leben möchte?
Da nützt und das ganze philosophieren nichts.
Gruß
Hurlinger
n°cturne
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Re: Ein schönes Gleichnis für die Sinnfrage des Leids

Beitrag von n°cturne »

Hurlinger hat geschrieben: Mittwoch 22. Mai 2024, 18:16 Hmm. Mir geht gerade etwas durch den Kopf.
Wir Menschen assoziieren eine Austernperle mit etwas sehr hübschem und wertvollen.
Was ist, wenn die Auster durch das eingeschlossene Sandkorn und den dadurch getroffenen Gegenmaßnahmen das Ganze als ein Krebsgeschwür empfindet, und ihr Leben lang darunter leidet und vielleicht auch damit nicht mehr leben möchte?
Da nützt und das ganze philosophieren nichts.
Gruß
Hurlinger
Und das ist sehr treffend philosophiert.
Lexx
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Registriert: Mittwoch 24. Juli 2024, 21:12

Re: Ein schönes Gleichnis für die Sinnfrage des Leids

Beitrag von Lexx »

salvation hat geschrieben: Mittwoch 22. November 2023, 22:16 „Verwundete Austern
lassen aus blutigen Wunden
eine Perle entstehen.
Den Schmerz, der sie zerreißt,
verwandeln sie in ein Juwel.“
(Richard Shanon)

Zur näheren Erläuterung dieses Leitmotivs soll so etwas wie eine Kindergeschichte beitragen, in der eine erfahrene weise Auster einen kleinen Auster-Nachkömmling ins Leben einführt und ihn den Sinn seiner Existenz verstehen lassen möchte. Zusammengerafft klingt das dann so:

Unter den Austern, so erklärt die weise Alte dem Kleinen, gibt es eine besondere Art, die zur Gattung der Perlmuscheln gehört. Die Perlmuscheln empfinden diese ihre Zugehörigkeit wie eine Art Auserwählung, denn sie haben eine Kraft, die die anderen Muscheln nicht haben: sie können Perlen bilden. „Das ist unser großer Reichtum, aber auch unser großer Schmerz“, so lautet die Erklärung der Alten, „denn ohne Leiden und Schmerzen gibt es keine Erwählung.“
(...)
Die Muschel selbst erfährt sozusagen nur die negative Seite dieses Werdens und erleidet den Schmerz des eindringenden Fremdkörpers. Aber würde sie den Schmerz des in sie eindringenden Korns nicht zulassen und ausgestalten, – würde sie sich erst gar nicht öffnen, – dann verfehlte sie den Sinn ihres Daseins, und ihr Leben bliebe arm und leer.
Vorab möchte ich gern betonen, dass sich Folgendes nicht gegen den User @salvation persönlich richtet, sondern lediglich gegen die meiner Meinung nach unangebrachte Botschaft in Kindergeschichten und diesbezüglich durchaus vergleichbarer Literatur, dass Schmerzen und Leiden akzeptabel oder gar im Sinne eines Privilegs ausdrücklich positiv zu belegen seien, sobald man ihnen einen "guten Zweck" andichtet. Niemand sollte sich das Recht herausnehmen, die Qualen anderer als bereichernd, erfüllend, sinngebend, daseinsberechtigend usw. darzustellen und diese abgef...ahrene Einstellung darüber hinaus auch vom Leidenden selbst zu erwarten.

Aus meiner eigenen Kindheit kenne ich zB eine Geschichte über Weihnachtsbäume, denen die s.g. große Ehre zuteil wird, zwar gefällt zu werden, dafür aber immerhin ein paar Tage lang hübsch geschmückt den Menschen zur Zier dienen zu dürfen. So wenig das Bäumchen von seinem herausgeputzen Ende am Weihnachtsfest hat, so wenig haben s.g. "Nutz"Tiere (allein schon das Wort spricht Bände) von ihrem Ende auf des Menschen Teller, so wenig hat die Auster am Ende von ihrer schönen Perle.

Wenn man als Mensch nun meint, das Leiden anderer Lebewesen brächte zumindest für ihn etwas höchst Erfreuliches hervor und erfülle genau damit einen tieferen Sinn und Zweck, dann erfreuen wir mit unserem höchst eigenen Leiden ja möglicherweise ebenfalls eine ähnlich ignorant meinende und sich selber ebenso arrogant als deutlich höher gestellt wahrnehmende Spezies, welche uns Menschen wiederum in etwa auf der Position ansiedelt, wie wir es völlig selbstverständlich mit Austern tun.

Kinder sollten mE vielmehr in Richtung eines gedanken- und respektvollen Umgangs mit dieser Erde und all ihren Bewohnern sensibilisiert werden, statt sie mit derlei leidensbejahenden Geschichten zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse auf Kosten anderer nicht nur ohne, sondern noch dazu mit einem absolut reinen Gewissen zu konditionieren. Statt den eigenen Profit aus der Existenz nicht menschlicher aber lebendiger und leidensfähiger Wesen durch Glorifizierung oder Relativierung deren Leidens zu verschleiern, wäre alternativ vielleicht eher die erzieherische Vermittlung von Demut, Dankbarkeit und einem wertschätzenden Verhalten gegenüber jedem dieser Geschöpfe angebracht.
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