Ich mache einmal den Anfang mit zwei Texten des schottischen Philosophen David Hume.
Über unzulässiges Wort/Of Suicide
Ein wichtiger Gewinn, welcher aus der Philosophie kommt, besteht darin, daß sie das allein wirksame Gegengift gegen Aberglauben und falsche Religion liefert. Alle übrigen Heilmittel gegen diese verderbliche Krankheit sind vergeblich oder wenigstens unsicher. Schlichter gesunder Verstand und Weltkenntnis, welche für die meisten Vorfälle des Lebens ausreichen, erweisen sich hier als unwirksam: Geschichte und tägliche Erfahrung bieten Beispiele von Männern, welche, mit den größten Fähigkeiten für Geschäft und Leben ausgestattet, ihr Leben lang dem gröbsten Aberglauben knechtisch unterworfen geblieben sind. Selbst Heiterkeit und Milde des Temperaments, welche Balsam in jede andere Wunde gießen, bieten kein Heilmittel gegen ein so bösartiges Gift, wie besonders daraus hervorgeht, daß das schöne Geschlecht, obwohl es gewöhnlich mit diesen reichen Gaben von der Natur ausgestattet ist, so manchen Tag von jenem lästigen Eindringling verkümmert sieht. Hat aber gesunde Philosophie einmal die Herrschaft über den Geist gewonnen, dann ist Aberglaube tatsächlich ausgeschlossen; und man kann zuversichtlich behaupten, daß ihr Sieg über diesen Feind vollständiger ist als über die meisten Laster oder Unvollkommenheiten, denen die menschliche Natur unterworfen ist. Liebe oder Zorn, Ehrgeiz oder Habsucht haben ihre Wurzel in dem Temperament und den Empfindungen, welche auch die gesundeste Vernunft kaum jemals imstande ist, ganz ins Rechte zu bringen; der Aberglaube hingegen, welcher auf falscher Meinung beruht, muß unmittelbar verschwinden, sobald wahre Philosophie richtigere Ansichten über höhere Mächte eingeflößt hat. Hier ist der Kampf zwischen Krankheit und Heilmittel mehr ein gleicher, und das letztere kann sich wirksam zu erweisen durch nichts verhindert werden als durch seine eigne Unwahrheit und Verfälschtheit.
Es würde überflüssig sein, die Verdienste der Philosophie durch Entwickelung des verderblichen Einflusses jenes Fehlers, von welchem sie den menschlichen Geist heilt, zu erheben. Der Abergläubische, sagt Tullius, ist in jeder Lage, in jedem Vorfall des Lebens elend; selbst der Schlaf, welcher den unglücklichen Sterblichen alle andern Sorgen abnimmt, bietet ihm neuen Anlaß zum Schrecken, wenn er seine Träume befragt und in den Nachtgesichtern zukünftiges Unglück vorbedeutet findet. Ich füge hinzu, daß er, obwohl der Tod allein seinem Elend eine Grenze zu setzen vermag, an diesen Zufluchtsort zu fliehen nicht wagt, sondern ein elendes Dasein fortschleppt, aus leerer Furcht, daß er durch Gebrauch einer Kraft, welche ihm sein Schöpfer gab, jenes gütige Wesen beleidige. Die Gaben Gottes und der Natur werden uns durch diesen grausamen Feind geraubt, und wo uns ein Schritt aus dem Ort des Schmerzes und der Sorge herausführen würde, ketten uns seine Drohungen an ein verhaßtes Dasein, welches elend zu machen derselbe in erster Reihe beiträgt.
Es ist bemerkt worden, daß diejenigen, welche durch die Unglücksfälle des Lebens zur Anwendung dieses letzten Heilmittels sich genötigt sahen, wenn sie durch die unzeitige Fürsorge ihrer Freunde der erwählten Todesart beraubt werden, selten eine andere wagen oder zum zweitenmal so viel Entschluß zuwege bringen, um ihr Vorhaben auszuführen. So groß ist unser Schauder vor dem Tode, daß derselbe, wenn er sich in einer andern Gestalt darbietet, als derjenigen, mit welcher man seine Einbildungskraft auszusöhnen sich bemüht hat, neue Schrecken erhält und den schwachen Mut eines Menschen überwältigt. Kommen zu dieser natürlichen Furchtsamkeit noch die Drohungen des Aberglaubens, so ist es kein Wunder, daß die Menschen alle Gewalt über ihr Leben verlieren, da selbst manche Lust und Freude, zu der wir durch eine starke Neigung hingezogen werden, uns durch diesen grausamen Tyrannen entrissen werden. Wir wollen hier versuchen, den Menschen in seine angeborne Freiheit wieder einzusetzen, indem wir alle Argumente gegen den unzulässiges Wort prüfen und zeigen, daß diese Handlung frei von Schuld oder Tadel sein mag, wie dies auch die gemeine Ansicht aller alten Philosophen ist.
Wenn unzulässiges Wort ein Verbrechen ist, so muß er eine Übertretung unserer Pflicht gegen Gott, gegen unsere Nächsten oder gegen uns selbst sein. Um zu beweisen, daß unzulässiges Wort keine Übertretung unserer Pflicht gegen Gott ist, genügt vielleicht die folgende Überlegung. Um die materielle Welt zu regieren, hat der allmächtige Schöpfer allgemeine und unveränderliche Gesetze aufgestellt, durch welche alle Körper, vom größten Planeten bis zum kleinsten Teilchen der Materie, in der ihnen angewiesenen Bahn und Verrichtung erhalten werden. Die tierische Welt zu regieren, hat er alle lebenden Wesen mit körperlichen und geistigen Fähigkeiten ausgestattet: mit Sinnen, Gefühlen, Begierden, Gedächtnis und Urteil, durch welche sie in dem ihnen bestimmten Lebenslauf angetrieben und geleitet werden. Diese beiden verschiedenen Prinzipien der materiellen und der tierischen Welt suchen einander beständig einzuschränken und hemmen oder fördern gegenseitig ihre Wirksamkeit. Die Kräfte des Menschen und der andern Tiere werden durch die Natur und Eigenschaften der umgebenden Körper beständig eingeschränkt und geleitet, und die Modifikationen und Bewegungen dieser Körper werden durch die Tätigkeit aller Tiere fortwährend verändert. Der Mensch wird in seiner Wanderung über die Oberfläche der Erde durch Flüsse aufgehalten, und Flüsse leihen, richtig geleitet ihre Kraft zur Bewegung von Maschinen, welche dem Menschen dienen. Aber obwohl die Gebiete der materiellen und tierischen Kräfte nicht gänzlich getrennt sind, so entspringt doch daraus kein Zwiespalt und keine Unordnung in der Schöpfung; im Gegenteil, aus der Vermischung, Einigung und Gegensätzlichkeit all der verschiedenen Kräfte lebloser Körper und lebender Wesen entspringt jene Sympathie, Einstimmigkeit und Verhältnismäßigkeit, welche den sichersten Beweis für eine oberste Weisheit bietet. Die Vorsehung Gottes erscheint nicht unmittelbar in irgendeiner Handlung, sondern sie lenkt alle Dinge durch jene allgemeinen und unveränderlichen Gesetze, welche vom Anfang der Zeit an errichtet sind. Alle Ereignisse können in einem gewissen Sinne Handlungen des Allmächtigen genannt werden; sie entspringen alle aus jenen Kräften, mit welchen er die Kreaturen begabt hat. Ein Haus, welches durch sein eigenes Gewicht fällt, ist nicht mehr durch seine Vorsehung zu Fall gebracht als ein anderes, das durch Menschenhände zerstört wird; noch sind die menschlichen Fähigkeiten weniger sein Werk, als die Gesetze der Bewegung und Gravitation. Wenn die Gefühle sich entfalten, wenn der Wille befiehlt, wenn die Glieder gehorchen, so ist das alles Gottes Handlung; und sowohl über diese belebten als über die unbelebten Prinzipien hat er die Weltregierung aufgerichtet. Jedes Ereignis ist in den Augen des unendlichen Wesens, welches in einem Augenblick die entferntesten Orte des Raumes und die entlegensten Zeiträume umfaßt, gleich wichtig. Es gibt kein Ereignis, wie wichtig es für uns sein mag, das er von den allgemeinen weltbeherrschenden Gesetzen ausgenommen und im besonderen seiner eigenen unmittelbaren Handlung und Einwirkung vorbehalten hätte. Die Umwälzung von Staaten und Reichen beruht auf der kleinsten Laune oder Gemütsbewegung eines einzigen Mannes; und das Leben der Menschen wird durch den kleinsten Zufall der Luft oder der Lebensweise, Sonnenschein oder Unwetter, verkürzt oder verlängert. Die Natur hält ihren Lauf und ihre Wirkungsweise ein, und wenn jemals die allgemeinen Gesetze durch besondere Willensakte der Gottheit durchbrochen werden, so geschieht dies auf eine Weise, welche der menschlichen Beobachtung durchaus entgeht. Wie auf der einen Seite die Elemente und die andern leblosen Teile der Schöpfung ohne Rücksicht auf die besonderen Interessen und Umstände der Menschen wirken, so sind die Menschen bei den mannigfachen Zusammenstößen mit der Materie auf eigenes Urteil und eigenes Belieben angewiesen und mögen jede Fähigkeit mit welcher sie ausgestattet sind, anwenden, um sich Wohlsein, Glück und Erhaltung zu verschaffen. Was bedeutet nun jener Grundsatz, daß ein Mensch, welcher des Lebens müde und gehetzt von Schmerz und Elend die natürlichen Schrecken des Todes mannhaft überwindet und sich jenem grausamen Schauspiel entzieht, daß, sage ich, ein solcher Mann durch einen Eingriff in das Geschäft der göttlichen Vorsehung und durch Störung der Weltordnung den Zorn des Schöpfers auf sich geladen haben soll? Sollen wir sagen, daß der Allmächtige die Verfügung über das Lebender Menschen in einer besonderen Weise sich vorbehalten und dieses Ereignis nicht in gleicher Weise, wie alle anderen, den allgemeinen Gesetzen des Weltlaufs unterstellt hat? Das ist offenbar falsch; das Leben der Menschen hängt von denselben Gesetzen ab, wie das Leben aller andern Tiere, und diese sind den allgemeinen Gesetzen der Materie und der Bewegung unterworfen. Der Fall eines Turmes oder die Beibringung eines Giftes zerstört einen Menschen ebenso, wie die gemeinste Kreatur; eine Überschwemmung fegt alles, was in dem Bereich ihrer Wut ist, ohne Unterschied hinweg. Wenn demnach das Leben der Menschen von den allgemeinen Gesetzen der Materie und der Bewegung für immer abhängig ist, ist die Verfügung über dasselbe deshalb verbrecherisch, weil es in jedem Fall verbrecherisch ist, in diese Gesetze Eingriffe zu machen oder ihre Wirkung zu durchkreuzen? Aber das erscheint unsinnig: alle Tiere sind rücksichtlich ihrer Lebensführung der eigenen Klugheit und Geschicklichkeit überlassen, und haben volles Recht, soweit ihre Kraft reichte die Wirkungen der Natur abzuändern. Ohne die Übung dieses Rechtes könnten sie nicht einen Augenblick leben; jede Handlung, jede Bewegung eines Menschen verändert die Ordnung der materiellen Teile und lenkt die allgemeinen Gesetze der Bewegung von ihrem gewöhnlichen Lauf ab. Fassen wir diese Folgerungen zusammen, so finden wir, daß das menschliche Leben von den allgemeinen Gesetzen der Materie und Bewegung abhängt, und daß es kein Eingriff in das Geschäft der Vorsehung ist, diese allgemeinen Gesetze zu durchkreuzen oder zu ändern: hat folglich nicht jeder die freie Verfügung über sein Leben? Und kann er nicht mit vollem Recht von der Macht, welche ihm die Natur verliehen hat, Gebrauch machen? Um die Beweiskraft dieses Schlusses zu vernichten, müßte ein Grund aufgezeigt werden, weshalb dieser spezielle Fall ausgenommen ist. Ist es deshalb, daß menschliches Leben so große Bedeutung hat, daß es für menschliche Einsicht zu anmaßend ist, darüber zu verfügen? Aber das Leben eines Menschen hat für das Weltall nicht größere Bedeutung als das einer Auster; und wäre es von wie großer Bedeutung immer, so hat die Ordnung der menschlichen Natur es tatsächlich doch menschlicher Einsicht unterworfen und nötigt uns in jedem Augenblick bezüglich desselben Beschlüsse zu fassen.
Wäre die Verfügung über das menschliche Leben dem Allmächtigen als besonderer Wirkungsbereich vorbehalten, so daß es ein Eingriff in sein Recht wäre, wenn Menschen selbst über ihr Leben verfügten, so würde es in gleicher Weise verbrecherisch sein für die Erhaltung des Lebens tätig zu sein als für die Zerstörung. Wenn ich einen Stein, der auf meinen Kopf fallen will, abwende, durchkreuze ich den Lauf der Natur und überschreite die Grenzen des vorbehaltenen göttlichen Wirkungsbereichs, indem ich mein Leben über die Zeitspanne, welche ihm nach den allgemeinen Gesetzen der Materie und Bewegung zugemessen ist, hinaus verlängere.
Ein Haar, eine Fliege, ein Insekt ist imstande das mächtige Wesen, dessen Leben von solcher Bedeutung ist, zu zerstören. Ist die Annahme absurd, daß menschliche Einsicht verfügen darf über das, was von so nichtigen Ursachen abhängig ist? Den Nil oder die Donau aus ihrem Lauf abzulenken wäre kein Verbrechen, wenn ich es vermöchte. Wo ist denn das Verbrechen, einige wenige Unzen Blut aus ihrem natürlichen Kanal abzulenken? Meint Ihr, daß ich gegen die Vorsehung murre oder meine Erschaffung verwünsche, weil ich aus dem Leben gehe und einem Dasein ein Ende mache, das mich elend machte, wenn ich es fortsetzte? Fern seien solche Gedanken von mir! Ich bin bloß von einer Tatsache überzeugt, welche ihr selbst für eine mögliche anseht, daß nämlich das menschliche Leben unglücklich sein kann, und daß mein Dasein, wenn weiter ausgedehnt, unwünschenswert sein würde, aber ich danke der Vorsehung sowohl für das Gute, das ich genossen, als für die Macht, womit sie mich ausgestattet, den drohenden Übeln mich zu entziehen. Euch kommt es zu, gegen die Vorsehung zu murren, die Ihr Euch törichterweise einbildet, solche Macht nicht zu besitzen, und die Ihr ein verhaßtes Leben, mit Schmerz und Krankheit, mit Schande und Armut beladen fortsetzen müßt. – Lehrt Ihr nicht, daß ich, wenn ein Übel mich befällt, sei es auch durch die Bosheit meiner Feinde, es mit Ergebung gegen die Vorsehung tragen müsse, und daß die Handlungen der Menschen Handlungen des Allmächtigen sind, so gut wie die Handlungen der leblosen Dinge? Wenn ich daher in mein eigenes Schwert falle, so empfange ich ebenso den Tod aus der Hand der Gottheit, als wenn derselbe von einem Löwen, einem Sturz, einem Fieber herkäme. Die Ergebung in den Willen der Vorsehung, welche Ihr in jedem Unglück, das mich befällt, verlangt, schließt menschliche Geschicklichkeit und Sorgfalt nicht aus, wenn ich dadurch dem Unglück entgehen kann. Und warum sollte ich nicht ein Heilmittel so gut wie das andere gebrauchen? Ist mein Leben nicht mein eigenes, so wäre es ebensowohl ein Verbrechen, es in Gefahr zu bringen, als darüber zu verfügen; und es könnte ein Mann, den Ruhmliebe oder Freundschaft in die größten Gefahren treibt, nicht den Namen eines Helden verdienen, wenn ein anderer, der seinem Leben aus denselben oder ähnlichen Ursachen ein Ende macht, mit Recht ein schlechter Mensch oder Bösewicht genannt würde. – Es gibt kein Wesen, das ein Vermögen oder eine Kraft besitzt, welche es nicht von seinem Schöpfer empfangen hat; noch gibt es eines, welches durch eine noch so sehr von der Regel abweichende Handlung in den Plan der Vorsehung eingreifen oder den Weltlauf in Unordnung bringen kann. Seine Wirkungen sind ihr Werk ebenso wie die Kette von Ereignissen, welche sie durchkreuzen; und welches Prinzip immer überwiegt, wir dürfen eben hieraus schließen, daß es von der Vorsehung begünstigt ist. Mag es lebend oder unbelebt, vernunftbegabt oder vernunftlos sein, es bleibt dabei: seine Macht ist von dem höchsten Schöpfer abgeleitet und in der Ordnung seiner Vorsehung einbegriffen. Wenn die Angst vor Schmerz die Liebe zum Leben überwiegt, wenn eine absichtliche Handlung die Wirkungen blinder Ursachen vorwegnimmt, so geschieht es einzig infolge der Kräfte und Anlagen, welche er seinen Geschöpfen eingepflanzt hat. Die göttliche Vorsehung bleibt unverletzt und liegt hoch über dem Bereich menschlicher Eingriffe. Es ist gottlos, sagt der alte römische Aberglaube, Ströme aus ihrem Lauf abzulenken und in die Rechte der Natur einzugreifen. Es ist gottlos, sagt der französische Aberglaube, die Pocken einzuimpfen und das Geschäft der Vorsehung sich anzumaßen durch absichtliche Hervorbringung von Krankheiten. Es ist gottlos, sagt der moderne europäische Aberglaube, dem eigenen Leben eine Grenze zu setzen und dadurch gegen den Schöpfer sich aufzulehnen. Und warum, frage ich, ist es nicht gottlos, ein Haus zu bauen, das Feld zu bestellen, den Ozean zu befahren? In allen diesen Handlungen wenden wir unsere geistigen und körperlichen Kräfte an, um in dem Lauf der Natur eine Veränderung hervorzubringen; und etwas anderes tun wir auch dort nicht. Sie sind deshalb alle gleich unschuldig oder gleich verbrecherisch. »Aber du bist durch die Vorsehung wie eine Schildwache auf deinen besonderen Posten gestellt; und wenn du diesen unabgerufen verläßt, so bist du der Auflehnung gegen deinen allmächtigen Herrn schuldig und hast sein Maßfallen auf dich geladen.« – Ich frage: Woraus folgerst du, daß mich die Vorsehung auf diesen Posten gestellt hat? Was mich betrifft, so finde ich, daß ich meine Geburt einer langen Kette von Ursachen verdanke, von welchen viele auf willkürlichen Handlungen von Menschen beruhten. »Aber die Vorsehung überwachte alle diese Ursachen und es geschieht nichts in der Welt ohne ihre Zustimmung und Mitwirkung.« Wenn dies, so erfolgt auch mein Tod, wie freiwillig immer, nicht ohne ihre Zustimmung; und wenn Schmerz oder Sorge meine Geduld überwältigt und mich des Lebens müde macht, so darf ich schließen, daß ich in den klarsten und ausdrücklichsten Worten von meinem Posten abgerufen bin. Es ist die Vorsehung, sicherlich, welche mich in diesem Augenblick in dieses Zimmer gesetzt hat; darf ich dasselbe, wenn es mir gut scheint, nicht verlassen, ohne den Vorwurf auf mich zu laden, daß ich meinen Posten verlassen habe? Wenn ich tot sein werde, werden die Elemente, aus welchen ich zusammengesetzt bin, noch ihren Dienst in der Welt tun und in der großen Werkstatt von gleichem Nutzen sein, als da sie dieses individuelle Geschöpf bildeten. Für das Ganze wird der Unterschied nicht größer sein als zwischen meinem Aufenthalt im Zimmer oder im Freien. Die eine Veränderung hat für mich größere Wichtigkeit, für das Weltall nicht.
Es ist eine Art von Gotteslästerung, sich einzubilden, daß ein geschaffenes Wesen die Ordnung der Welt stören oder das Geschäft der Vorsehung sich anmaßen kann. Es setzt voraus, daß dieses Wesen Kräfte und Fähigkeiten besitzt, welche es nicht von dem Schöpfer empfing und welche seiner Herrschaft und Gewalt nicht Untertan sind. Ein Mann kann ohne Zweifel die Gesellschaft stören und dadurch das Mißfallen des Allmächtigen auf sich laden; aber die Regierung der Welt ist weit über den Bereich seiner Eingriffe erhaben. Und wie wird es sichtbar, daß der Allmächtige mit jenen Handlungen, welche die Gesellschaft stören, unzufrieden ist? Durch die Grundsätze, welche er der menschlichen Natur eingepflanzt hat und welche uns mit einem Gefühl der Reue erfüllen, wenn wir uns selbst solcher Handlungen schuldig gemacht haben, und mit einem Gefühl der Mißbilligung und des Tadels, wenn wir sie an anderen wahrnehmen. – Wir wollen nun, unserem vorgesetzten Gedankengang folgend, untersuchen, ob unzulässiges Wort zu dieser Art von Handlungen gehört und ein Bruch unserer Pflicht gegen den Nächsten oder die Gesellschaft ist.
Ein Mensch, welcher sich aus dem Leben zurückzieht, fügt der Gesellschaft kein Leid zu; er hört bloß auf, ihr Gutes zu tun, was, wenn es ein Unrecht ist, ein Unrecht von der geringsten Art ist. – Alle unsere Verpflichtungen, der Gesellschaft Gutes zu tun, scheinen eine Art von Gegenseitigkeit einzuschließen. Ich empfange die Wohltaten der Gesellschaft und daher bin ich verpflichtet, ihre Interessen zu fördern; wenn ich mich aber aus der Gesellschaft überhaupt entferne, bin ich dann noch gebunden? Doch zugestanden, daß unsere Verpflichtung Gutes zu tun, beständig dauerte, so hat sie doch Grenzen: ich bin nicht verpflichtet, der Gesellschaft ein geringfügiges Gutes zu tun auf Kosten eines großen Schmerzes meinerseits: weshalb sollte ich also wegen eines nichtigen Nutzens, den die Gesellschaft vielleicht von mir erlangen möchte, ein elendes Dasein verlängern? Wenn ich auf Grund von Alter und Krankheit einen Beruf aufgeben und meine ganze Zeit darauf verwenden darf, mich gegen diese unglücklichen Umstände zu schützen und so viel als möglich das Elend meines künftigen Lebens zu erleichtern, warum darf ich nicht durch eine Handlung, welche für die Gesellschaft nicht nachteiliger ist, auf einmal all dieses Elend abschneiden? – Aber man setze den Fall, daß es nicht mehr in meiner Macht steht, das Interesse der Gesellschaft zu fördern, daß ich ihr eine Last bin, daß mein Leben eine andere Person verhindert, der Gesellschaft viel mehr zu nützen: in solchem Fall muß mein Verzicht auf das Leben nicht bloß schuldlos, sondern löblich sein. Und die meisten Menschen, welche in die Versuchung kommen, das Dasein zu verlassen, sind in solcher Lage; diejenigen, welche Gesundheit und Kraft und Ansehen haben, neigen gewöhnlich zur Zufriedenheit mit der Welt.
Es ist jemand an einer Verschwörung für das öffentliche Wohl beteiligt, wird auf Verdacht ergriffen, mit der Folter bedroht; er kennt seine Schwäche und weiß, daß das Geheimnis von ihm erpreßt werden wird: könnte ein solcher für das öffentliche Wohl besser sorgen als durch schleuniges Beenden eines elenden Lebens? Dies war der Fall des berühmten und tapferen Strozzi von Florenz. – Oder man setze den Fall, daß ein Verbrecher mit Recht zu einem schmachvollen Tode verurteilt ist, läßt sich irgendein Grund finden, weshalb er nicht seine Bestrafung vorwegnehmen und sich all der Angst des Denkens an ihr gräßliches Nahen entziehen soll? Er greift in das Geschäft der Vorsehung nicht mehr ein als der Magistrat, der seine Hinrichtung befahl, und sein freiwilliger Tod ist der Gesellschaft durch Befreiung von einem verderblichen Mitglied gleich nützlich.
Daß unzulässiges Wort oft mit dem Interesse und mit der Pflicht gegen uns selbst verträglich ist, kann niemand bezweifeln, der zugibt, daß Alter, Krankheit oder Unglück das Leben zu einer Last und selbst schlimmer als seine Vernichtung machen können. Ich glaube, daß noch niemand ein Leben wegwarf, das zu erhalten der Mühe wert war. Denn unsere natürliche Furcht vor dem Tode ist so groß, daß kleine Beweggründe nie imstande sein werden uns mit ihm auszusöhnen; und wenn vielleicht jemandes Gesundheits- oder Glücksumstände dieses Mittel nicht zu erfordern scheinen, so dürfen wir wenigstens dessen sicher sein, daß derjenige, der ohne augenscheinlichen Grund es anwendete, an so unheilbarer Verkehrtheit oder Düsterheit des Temperaments litt, daß dieselbe alle Lust vergiftete und ihn ebenso elend machte, als wenn er mit dem schwersten Mißgeschick beladen gewesen wäre. Wenn unzulässiges Wort ein Verbrechen ist, so ist es Feigheit allein, die uns dazu antreiben kann. Wenn er kein Verbrechen ist, so sollten sowohl Einsicht als Tapferkeit uns anhalten, uns auf einmal von dem Dasein zu befreien, wenn es eine Last wird. Dies ist dann der einzige Weg, auf welchem wir der Gesellschaft nützlich sein können, indem wir ein Beispiel geben, dessen Nachahmung jedermann seine Chance für glückliches Leben erhält und ihn von Gefahr und Elend wirksam befreit.
Über die Unsterblichkeit der Seele/Of the Immortality of the Soul
Durch das bloße Licht der Vernunft scheint es schwer, die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen; die Argumente dafür werden gewöhnlich entweder metaphysischen, oder moralischen, oder physischen Gesichtspunkten entnommen. In Wirklichkeit ist es das Evangelium allein, welches »Leben und unsterbliches Wesen ans Licht gebracht hat.«
I. Es ist ein Gemeinplatz der Metaphysik, daß die Seele immateriell und daß es dem Gedanken unmöglich ist, einer materiellen Substanz anzugehören.
Aber eben die Metaphysik lehrt uns, daß der Begriff der Substanz ganz verworren und unvollkommen ist, und daß wir keine andere Vorstellung von einer Substanz haben als von einem Aggregat einzelner Eigenschaften, die einem unbekannten Etwas anhängen. Materie und Geist sind daher im Gründe gleich unbekannt, und wir können nicht bestimmen, welche Eigenschaften der einen oder andern anhangen.
Ebenso lehrt sie uns, daß über Ursache und Wirkung nichts a priori ausgemacht werden kann; und daß, da Erfahrung die einzige Quelle unserer Urteile dieser Art ist, wir nicht irgendwo anders her wissen können, ob nicht die Materie durch ihre Struktur oder Anordnung die Ursache des Gedankens sein kann. Abstraktes Räsonnement kann keine Frage mit Bezug auf Tatsachen oder Dasein entscheiden.
Doch, geben wir zu, daß eine geistige Substanz durch die Welt verstreut sei, etwa wie das ätherische Feuer der Stoiker, und daß diese das Substrat sei, welches einzig den Gedanken trage, so haben wir Grund aus der Analogie zu schließen, daß die Natur davon in gleicher Weise Gebrauch macht, wie von der andern Substanz, der Materie. Sie verwendet dieselbe als eine Art Teig oder Ton, bildet sie in mannigfache Formen und Existenzen, löst nach einiger Zeit jede Bildung auf und fügt den Stoff in eine neue Form. Wie dieselbe materielle Substanz nach und nach den Leib aller Tiere bilden kann, so kann dieselbe geistige Substanz ihre Seelen bilden: ihr Selbstbewußtsein, oder das System von Gedanken, welches sie während des Lebens bildeten, mag jedesmal durch den Tod aufgelöst werden, und nichts interessiert sie an der neuen Gestaltung. Dieselben Männer, welche die Sterblichkeit der Seele am entschiedensten behaupteten, haben die Unsterblichkeit ihrer Substanz nie geleugnet; und daß eine immaterielle Substanz so gut wie eine materielle ihr Gedächtnis und ihr Selbstbewußtsein verlieren könne, wird zum Teil in der Erfahrung gegeben.
Nach einem Schluß aus dem gemeinen Lauf der Dinge und ohne Annahme einer neuen Einmischung der höchsten Ursache, welche in der Philosophie niemals zugelassen werden sollte, ist dasjenige, was unvergänglich ist, auch unentstehbar. Wenn demnach die Seele unsterblich ist, so existierte sie auch vor der Geburt; und wenn diese frühere Existenz uns nichts angeht, so tut es auch die folgende nicht.
Es ist kein Zweifel, daß Tiere fühlen, denken, lieben, hassen, wollen und sogar überlegen, wenn auch in einer weniger vollkommenen Weise als der Mensch: sind auch ihre Seelen immateriell und unsterblich?
II. Wir wollen nun die moralischen Beweise überlegen, besonders die aus der Gerechtigkeit Gottes abgeleiteten, von dem man voraussetzt, daß er an der künftigen Strafe der Lasterhaften und der Belohnung der Tugendhaften interessiert sei.
Aber diese Beweise gründen sich auf die Voraussetzung, daß Gott Eigenschaften habe, außer den in der Welt manifestierten, mit denen allein wir bekannt sind. Woher schließen wir auf das Dasein dieser Eigenschaften?
Mit großer Sicherheit dürfen wir behaupten, daß dasjenige, von dem wir wissen, daß Gott es wirklich getan habe, das beste sei; aber sehr unsicher ist die Behauptung, daß er allemal tun muß, was uns das beste scheint. In wie vielen Fällen würde dieser Schluß, auf die gegenwärtige Welt angewendet, uns irre führen?
Wenn aber irgendeine Absicht der Natur deutlich ist, so dürfen wir behaupten, daß, soweit wir durch natürliche Vernunft urteilen können, die ganze Absicht und Zwecksetzung in der Schöpfung des Menschen auf das gegenwärtige Leben begrenzt ist. Mit wie geringer Anteilnahme sieht er, infolge der angeborenen Natur der Seele und der Gefühle, über dies Leben hinaus? Ist ein Vergleich, sei es mit Bezug auf Festigkeit oder Wirksamkeit, zwischen jener schwankenden Idee und der zweifelhaftesten Überzeugung von irgend etwas Tatsächlichem, das im gewöhnlichen Leben begegnet?
In der Tat erheben sich in einigen Gemütern unerklärliche Schrecken mit Bezug auf die Zukunft; aber diese würden schnell verschwinden, wenn sie nicht künstlich durch Lehre und Erziehung gepflegt würden. Und ihre Pfleger, was haben sie für einen Beweggrund? Allein die Gewinnung ihres Lebensunterhalts und die Erwerbung von Macht und Reichtum in dieser Welt. Ihr eigener Eifer und ihr Bemühen beweisen also gegen sie.
Welche Grausamkeit, welche Unbilligkeit, welche Ungerechtigkeit der Natur, unser Interesse und unsere Einsicht auf diese Welt zu beschränken, wenn uns ein anderer Schauplatz von unendlich größerer Bedeutung erwartet. Dürfte ein so barbarischer Betrug einem gütigen und weisen Wesen zugeschrieben werden?
Man sehe, mit wie genauer Angemessenheit die auszuführende Absicht und die ausführenden Kräfte durch die ganze Natur hindurch einander angepaßt sind. Wenn die Vernunft des Menschen ihm große Überlegenheit über die anderen Tiere verschafft, so sind seine Bedürfnisse in entsprechender Weise vermehrt: seine ganze Zeit, seine ganze Fähigkeit, Tätigkeit, Tapferkeit und Leidenschaftlichkeit finden ausreichende Verwendung in Abwehr des Elends von seinem gegenwärtigen Zustande. Und oft, ja fast stets sind sie für das ihnen zugewiesene Geschäft zu schwach.
Ein Paar Schuhe ist vielleicht noch nie zu der höchsten Vollkommenheit, welche dieses Bekleidungsstück erreichen kann, gebracht worden; und schon ist es notwendig, oder wenigstens sehr nützlich, daß es Staatsmänner und Sittenlehrer, ja sogar Geometer, Dichter und Philosophen unter den Menschen gebe.
Die Kräfte des Menschen sind, wenn wir allein dieses Leben in Betracht ziehen, seinen Bedürfnissen nicht mehr überlegen, als die der Füchse und Hasen im Vergleich zu ihren Bedürfnissen und ihrer Lebensdauer. Der Schluß aus der Gleichheit des Grundes liegt auf der Hand.
Bei der Theorie der Sterblichkeit der Seele läßt sich die Inferiorität der weiblichen Fähigkeit leicht rechtfertigen. Ihr häusliches Leben erfordert keine größeren Fähigkeiten weder des Geistes noch des Leibes. Dieser Umstand kommt in Wegfall und wird ganz unerheblich bei der religiösen Theorie: das eine Geschlecht hat die gleiche Aufgabe zu erfüllen wie das andere, ihre Verstandes- und Willenskräfte müßten ebenfalls gleich sein, und zwar beide unendlich größer als jetzt.
Da jede Wirkung eine Ursache voraussetzt, und diese wieder eine, bis wir zu der letzten Ursache aller Dinge kommen, welche die Gottheit ist, so ist alles, was sich ereignet, durch ihn angeordnet und nichts kann Gegenstand seiner Strafe und Rache sein.
Nach welcher Regel sollen Strafen und Belohnungen ausgeteilt werden? Was ist das göttliche Maß von Verdienst und Schuld? Sollen wir annehmen, daß menschliche Empfindungen in der Gottheit stattfinden? Eine wie verwegene Annahme! Wir haben keine Vorstellung von andern Empfindungen.
Nach menschlichem Gefühl sind Verstand, Mut, gute Sitten, Fleiß, Einsicht, Genie wesentliche Bestandteile persönlicher Auszeichnung. Sollen wir demnach einen Himmel für Dichter und Helden erbauen, wie die alte Mythologie? Warum alle Belohnungen auf eine Art von Verdienst einschränken?
Strafe ohne Zweck und Absicht ist mit unseren Vorstellungen von Güte und Gerechtigkeit unverträglich; und kein Zweck kann durch sie gefördert werden, wenn das ganze Spiel abgeschlossen ist.
Strafe muß, nach unseren Begriffen, dem Vergehen angemessen sein. Warum denn ewige Strafen für zeitliche Vergehen eines so schwachen Wesens als des Menschen? Kann irgend jemand die Wut Alexanders billigen, der ein ganzes Volk auszurotten vorhatte, weil sie sein Lieblingspferd Bukephalus weggenommen hatten?
Himmel und Hölle setzen zwei verschiedene Arten von Menschen voraus: gute und böse; aber der größte Teil der Menschen schwankt zwischen Laster und Tugend.
Wenn jemand mit dem Vorhaben die Welt durchwanderte, den Rechtschaffenen eine gute Mahlzeit, den Bösen eine tüchtige Tracht Prügel zu geben, so würde ihm oft die Wahl schwer werden und er würde finden, daß Tugend und Schuld der meisten Männer wie Weiber weder das eine noch das andere zu verdienen groß genug sei.
Einen andern Maßstab von Billigung und Tadel als den menschlichen vorauszusetzen, verwirrt alle Dinge. Woher lernen wir, daß es so etwas wie moralische Unterscheidung gibt als von unseren eigenen Empfindungen?
Wer könnte, wenn er keine persönliche Beleidigung erfahren hat (und welcher Mensch von guter Art könnte es selbst dann?), allein aus der Empfindung der Mißbilligung heraus selbst nur die gemeinen gesetzlichen leichten Strafen auferlegen? Stählt irgend etwas die Brust unserer Richter und Geschworenen gegen die Empfindungen der Menschlichkeit, als die Rücksicht auf die Notwendigkeit und das öffentliche Interesse?
Nach römischem Gesetz wurden diejenigen, welche sich des Vatermordes schuldig gemacht hatten, mit einem Affen, einem Hund und einer Schlange in einen Sack getan und in den Fluß geworfen. Der Tod allein war die Strafe derer, die ihre Schuld, wie erwiesen sie sein mochte, leugneten. Ein Verbrecher wurde vor Augustus verhört und nach vollständiger Überführung verurteilt; der letzten Frage, die er stellte, gab der menschliche Kaiser eine solche Wendung, daß sie den Elenden zu einer Leugnung seiner Schuld anleitete. »Sicherlich (sagte der Fürst) Ihr tötetet nicht Euren Vater«? Diese Milde, selbst gegen den größten Verbrecher und selbst zur Verhinderung so unerheblichen Leidens, entspricht unseren natürlichen Ideen von Recht. Ja, auch der bigotteste Priester würde, wenn er ohne Reflexion seinem natürlichen Gefühl folgte, dieselbe billigen, vorausgesetzt, daß das Verbrechen nicht Ketzerei oder Unglaube wäre, denn gegen diese Verbrechen möchte er überhaupt keine Nachsicht kennen, da sie ihn in seinen zeitlichen Interessen und seinem Vorteil beeinträchtigen.
Die Hauptquelle moralischer Ideen ist die Erwägung des Interesses der menschlichen Gesellschaft. Verdienen diese so kurzen, so geringfügigen Interessen durch ewige und unendliche Strafen geschützt zu werden? Die Verdammnis eines einzigen Menschen ist ein unendlich größeres Übel in der Welt, als der Sturz von tausend Millionen Königreichen.
Die Natur hat die menschliche Kindheit besonders schwach und sterblich gemacht, als wollte sie die Vorstellung von einem Prüfungsstand widerlegen; die Hälfte der Menschen stirbt, ehe sie vernünftige Geschöpfe sind.
III. Die physischen Argumente aus der Analogie der Natur sprechen deutlich für die Sterblichkeit der Seele; und sie sind in Wahrheit die einzigen philosophischen Argumente, welche mit Bezug auf diese Frage oder überhaupt mit Bezug auf Tatsachenfragen zugelassen werden sollten.
Wo immer zwei Objekte so nahe miteinander verbunden sind, daß alle Veränderungen, welche wir an dem einen wahrnehmen von entsprechenden Veränderungen an dem andern begleitet sind, da müssen wir nach den Regeln der Analogie schließen, daß, wenn in ersterem noch größere Veränderungen eintreten und es gänzlich aufgelöst wird, eine gänzliche Auflösung auch des anderen folgt.
Der Schlaf, eine sehr kleine Veränderung im Körper, wird von einem zeitweiligen Erlöschen, wenigstens einer großen Verwirrung in der Seele begleitet.
Die Schwäche des Körpers und des Geistes in der Kindheit sind genau entsprechend, ihre Kraft im Mannesalter, ihre sympathische Störung in Krankheit, ihr gemeinsamer allmählicher Verfall im Alter. Der weitere Schritt scheint unvermeidlich: ihre gemeinsame Auflösung im Tode.
Die letzten Symptome, in welchen der Geist sich äußert, sind Unordnung, Schwäche, Empfindungslosigkeit und Stumpfsinn, die Vorläufer seiner Vernichtung. Der Fortschritt derselben Ursachen löscht ihn, dieselben Wirkungen steigernd, gänzlich aus.
Wenn wir nach der gewöhnlichen Analogie der Natur urteilen, so kann keine Form die Verpflanzung aus ihren ursprünglichen Lebensbedingungen in sehr verschiedene überdauern. Bäume gehen im Wasser, Fische in der Luft, Tiere in der Erde zugrunde. Schon ein so kleiner Unterschied wie der des Klimas ist oft tötlich. Was ist für ein Grund zu der Einbildung, daß eine so ungeheure Veränderung, als die Seele durch die Auflösung des Körpers und aller seiner Organe des Denkens und Empfindens erfährt, ohne die Auflösung des Ganzen überstanden werden könne?
Alles ist gemeinsam zwischen Leib und Seele. Die Organe des einen sind alle zugleich Organe der andern; daher muß auch das Dasein der einen von dem des andern abhangen.
Die Seelen der Tiere sind zugestandenermaßen sterblich; und diese sind den Seelen der Menschen so ähnlich, daß die Analogie ein sehr starkes Argument abgibt. Ihre Leiber sind den unsrigen nicht ähnlicher, dennoch verwirft niemand ein Argument aus der vergleichenden Anatomie. Die Metempsychose ist daher das einzige System dieser Art, dem die Philosophie Gehör geben kann.
Nichts in dieser Welt ist beständig, jedes Ding, wie fest dem Anschein nach, ist in fortwährendem Fluß oder Wechsel, die Welt selbst trägt Anzeichen von Schwäche und Auflösung an sich. Wie entgegen aller Analogie ist es daher sich einzubilden, daß eine einzige Form, anscheinend die schwächste von allen und den größten Störungen unterworfen, unsterblich und unauflöslich ist? Was ist das für eine Theorie! Wie leichthin, um nicht zu sagen leichtsinnig aufgestellt!
Auch die Verfügung über die unendliche Zahl posthumer Existenzen muß der religiösen Theorie Schwierigkeiten machen. Jeden Planeten jedes Sonnensystems haben wir die Freiheit als bevölkert mit intelligenten sterblichen Wesen vorzustellen, wenigstens läßt sich eine gegenteilige Annahme nicht beweisen. Für diese müßte demnach bei jeder neuen Generation eine neue Welt jenseit der Grenzen der gegenwärtigen erbaut werden, oder es müßte am Anfang eine so wunderbar weite Welt geschaffen sein, daß sie diese beständig einströmenden Wesen fassen kann. Darf eine Philosophie so kühne Voraussetzungen annehmen, und zwar lediglich unter dem bloßen Vorwand der Möglichkeit?
Wenn gefragt wird, ob Agamemnon, Thersites, Hannibal, Nero und jeder stupide Bursche, der jemals in Italien, Skythien, Bactrien oder Guinea gelebt hat, jetzt noch am Leben ist, kann jemand sich einreden, daß eine Durchforschung der Natur Beweismittel an die Hand geben kann, eine so befremdliche Frage bejahend zu entscheiden? Der Mangel an Argumenten, von der Offenbarung abgesehen, begründet hinlänglich die Verneinung. Quanto facilius certiusque, sagt Plinius, sibi quemque credere ac specimen securitatis antegenitali sumere experimento.2 Unsere Empfindungslosigkeit vor der Zusammensetzung des Körpers scheint für die natürliche Vernunft einen gleichen Zustand nach der Auflösung zu beweisen.
Wäre unsere Furcht vor der Vernichtung eine ursprüngliche Empfindung und nicht die Wirkung unseres allgemeinen Verlangens nach Glück, so würde sie eher die Sterblichkeit der Seele beweisen; denn da die Natur nichts umsonst tut, so würde sie uns nicht Furcht vor einem unmöglichen Ereignis eingepflanzt haben. Sie kann uns Furcht vor einem unvermeidlichen Ereignis einpflanzen, vorausgesetzt, daß unsere Bemühungen, wie hier der Fall ist, es auf einige Entfernung hinausschieben können. Der Tod ist am Ende unvermeidlich; aber das Menschengeschlecht könnte sich nicht erhalten, hätte uns die Natur nicht eine Abneigung gegen ihn eingepflanzt. – Alle Lehren, welche von unseren Neigungen begünstigt werden, sind verdächtig und die Hoffnungen und Befürchtungen, welche dieser Theorie den Ursprung gaben, liegen auf der Hand.
Es ist ein unendlicher Vorteil in jeder Streitfrage die negative Seite zu behaupten. Wenn die Frage außerhalb des gewöhnlichen erfahrungsmäßigen Laufes der Natur liegt, so ist dieser Umstand meist, wenn nicht stets entscheidend. Durch welche Argumente oder Analogien können wir einen Zustand der Existenz beweisen, den niemals jemand sah und der auf keine Weise einem, der je gesehen wurde, gleicht? Wer will in irgendeine vorgebliche Philosophie so viel Vertrauen setzen, um auf ihr Zeugnis die Wirklichkeit einer so wunderbaren Welt zu gründen? Eine neue Art Logik ist zu diesem Zweck erforderlich, und neue Geisteskräfte, die uns diese Logik zu verstehen befähigen.
Nichts kann die unendliche Verpflichtung, welche die Menschheit gegen die göttliche Offenbarung hat, in helleres Licht setzen, als der Umstand, daß wir kein anderes Mittel finden, welches diese große und wichtige Wahrheit feststellen könnte.
(aus David Hume: Dialoge über natürliche Religion. Über unzulässiges Wort und Unsterblichkeit der Seele. Leipzig 1905.)
Gedanken/Texte über Selbsttötung
Moderatoren: Ludwig A. Minelli, Mediator
Re: Gedanken/Texte über Selbsttötung
Ich mach mal weiter mit einem Auszug aus Camus' "Der Mythos des Sisyphos". Er spricht sich zwar gegen den Suizid aus, aber ich finde die Argumentation doch sehr konsistent.
Das Board ersetzt "Selbst-mord" automatisch durch "Selbsttötung", was ich generell nicht schlimm finde, hier aber Stolpersteine darstellen.
Den farbigen Teil können lesefaule Menschen aus meiner Sicht theoretisch auslassen.
Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbst-Mord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere [...] kommt erst später.
[...]
Man bringt sich um, weil das Leben sich nicht lohnt – das ist zweifellos eine Wahrheit, freilich eine unergiebige Wahrheit, weil sie ein Gemeinplatz ist. Aber rührt diese Beleidigung des Daseins, dieses Ableugnen, durch das man es verschwinden lässt, daher, dass es keinerlei Sinn hat? Verlangt seine Absurdität, dass man ihm mittels der Hoffnung oder durch den Selbst-Mord entflieht? Das allein müssen wir herausbekommen [...].
Das Gefühl der Absurdität kann einen beliebigen Menschen an einer beliebigen Straßenecke anspringen. [...] Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das "Warum" da, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.
"Fängt an" - das ist wichtig. Der Überdruss ist das Ende eines mechanischen Lebens, gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewusstseinsregung. Er weckt das Bewusstsein und bereitet den nächsten Schritt vor. Der nächste Schritt ist die unbewusste Rückkehr in die Kette oder das endgültige Erwachen.
[...]
Das Gefühl für das Absurde ist nicht gleichbedeutend mit dem Begriff des Absurden. Es begründet ihn nur in gewisser Hinsicht. [...] "Das ist Absurd" bedeutet: "Das ist unmöglich", aber auch: "Das ist ein Widerspruch in sich". Wenn ich sehe, wie ein Mensch sich mit blanker Waffe auf eine Maschinengewehrgruppe stürzt, dann werde ich sein Unternehmen absurd finden. Aber das ist nur auf Grund des Missverhältnisses zwischen seiner Absicht und dem, was ihn wirklich erwartet, auf Grund des Widerspruchs, den ich zwischen seinen wirklichen Kräften und seinem Ziele feststellen kann.
Ebenso erachten wir einen Urteilsspruch als absurd, wenn wir ihn dem durch den Tatbestand offensichtlich geforderten Urteil entgegenhalten. [...] In allen diesen Fällen [...] wird die Absurdität um so größer sein, je mehr meine Vergleichsobjekte voneinander abweichen. [...] Ich darf also wohl sagen, dass das Gefühl der Absurdität nicht aus der einfachen Untersuchung einer Tatsache oder eines Eindrucks entsteht, sondern dass es seinen Ursprung in einem Vergleich hat, in einem Vergleich [...] zwischen einer Handlung und der Welt, die stärker ist als sie. Das Absurde [...] ist weder in dem einen noch in dem anderen verglichenen Element enthalten. Es entsteht durch deren Gegenüberstellung.
Im Bereich und auf der Ebene des Verstandes kann ich also sagen, dass das Absurde nicht im Menschen [...] und auch nicht in der Welt liegt, sondern in ihrem gemeinsamen und gleichzeitigen Vorhandensein. [...] Ich habe es als eine Gegenüberstellung und einen pausenlosen Kampf definiert. [...] Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, als man sich mit ihm nicht einverstanden erklärt.
[...]
Nun, wenn ich mich an die Lehren der Existenzphilosophie halte, so sehe ich, dass ausnahmslos alle mir ein Ausweichen vorgeschlagen haben. Sie gehen vom Absurden aus [...], und sie finden einen Grund zur Hoffnung in dem, was sie hilflos macht. Diese gewaltsame Hoffnung ist bei allen wesenhaft religiös. Sie verdient es, dass wir näher auf sie eingehen.
[...]
So komme ich wieder zu SCHESTOW. Ein Kommentator überliefert uns einen interessanten Ausspruch von ihm: "Der einzig wahre Ausweg liegt genau da, wo es nach menschlichem Ermessen keinen Ausweg gibt. Wäre es nicht so - wozu brauchten wir dann Gott? Gott wendet man sich nur zu, um das Unmögliche zu erreichen. Für das Mögliche genügen die Menschen." Wenn es eine SCHESTOWsche Philosophie gibt, dann ist sie darin gewiss vollständig enthalten.
Wenn SCHESTOW nämlich am Schluss seiner leidenschaftlichen Analysen die fundamentale Absurdität des ganzen Daseins enthüllt, sagt er keineswegs: "Hier ist das Absurde", sondern "Hier ist Gott: auf ihn dürfen wir uns berufen, wenn er auch in keine unserer Verstandeskategorien hineinpasst." [...] Man muss in ihn hineinspringen und sich mit diesem Sprung von allen rationalen Illusionen frei machen.
[...]
Noch einmal: diese Haltung ist berechtigt. Aber ich [...] habe nicht die Erhabenheit eines Gedankens oder eines Glaubensaktes zu untersuchen. [...] Ich will wissen, ob ich mit dem, was ich weiß, und nur damit leben kann.
[...]
KIERKEGAARD ruft und verkündet: "Wenn der Mensch kein ewiges Gewissen hätte, wenn [...] unter den Dingen sich die bodenlose, durch nichts zu füllende Leere verbärge - was wäre dann das Leben anders als Verzweiflung?" Dieser Schrei ist nicht dazu angetan, den absurden Menschen zurückzuhalten. Das Wahre suchen heißt nicht: das Wünschenswerte suchen. Wenn man sich, um der angstvollen Frage: "Was wäre dann das Leben?" zu entgehen, wie der Esel von den Rosen der Illusionen nähren muss, dann wird der absurde Geist, statt in der Lüge zu resignieren, sich lieber ohne Zagen KIERKEGAARDs Antwort zu eigen machen: "die Verzweiflung".
[...]
Meine Überlegung möchte dem Unabweisbaren, das sie aufgedeckt hat, treu bleiben. Diese Evidenz ist das Absurde. Es ist jener Zweispalt zwischen dem sehnsüchtigen Geist und der enttäuschenden Welt [...]. Es kann sich nicht darum handeln, das Unabweisbare zu maskieren, das Absurde zu unterdrücken [...]. Wir müssen wissen, ob wir damit leben können oder ob die Logik es verlangt, dass wir daran sterben.
[...]
Jetzt ist die Hauptsache getan. Ich verfüge über einige Wahrheiten, von denen ich nicht mehr loskomme. [...] Ich weiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über mich hinausgeht. Aber ich weiß, dass ich diesen Sinn nicht kenne und dass ich ihn zunächst unmöglich erkennen kann. Was bedeutet mir ein Sinn, der außerhalb meiner Situation liegt? Ich kann nur innerhalb menschlicher Grenzen etwas begreifen. [...]
Und ich weiß außerdem: diese beiden Gewissheiten - mein Verlangen nach Absolutem und nach Einheit und das Unvermögen, diese Welt auf ein rationales, vernunftgemäßes Prinzip zurückzuführen - kann ich nicht miteinander vereinigen. Was für eine andere Wahrheit kann ich erkennen, ohne zu lügen, ohne eine Hoffnung einzuschalten, die ich nicht habe [...]?
Leben heißt: das Absurde leben lassen.
Das Absurde leben lassen heißt: ihm ins Auge sehen. [...] Einer der wenigen philosophisch stichhaltigen Positionen ist demnach die Auflehnung.
[...]
Hier sehen wir, wie weit die absurde Erfahrung sich vom Selbst-Mord entfernt. Man könnte meinen, der Selbst-Mord sei eine Folge der Auflehnung. Aber zu Unrecht.
[...]
Er ist dank der Zustimmung, die ihm zugrunde liegt, genau ihr Gegenteil. Der Selbst-Mord ist, wie der Sprung, die Anerkennung ihrer Grenzen. [...] Es geht darum, unversöhnt und nicht aus freiem Willen zu sterben.
Der Selbst-Mord ist ein Verkennen.
Aus: Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos.
Ein Versuch über das Absurde.
(Le Mythe de Sisyphe, 1956).
Reinbek: Rowohlt 1959 (rde 90).
Keine Garantie für Orthographie.
Das Board ersetzt "Selbst-mord" automatisch durch "Selbsttötung", was ich generell nicht schlimm finde, hier aber Stolpersteine darstellen.
Den farbigen Teil können lesefaule Menschen aus meiner Sicht theoretisch auslassen.
Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbst-Mord. Die Entscheidung, ob das Leben sich lohne oder nicht, beantwortet die Grundfrage der Philosophie. Alles andere [...] kommt erst später.
[...]
Man bringt sich um, weil das Leben sich nicht lohnt – das ist zweifellos eine Wahrheit, freilich eine unergiebige Wahrheit, weil sie ein Gemeinplatz ist. Aber rührt diese Beleidigung des Daseins, dieses Ableugnen, durch das man es verschwinden lässt, daher, dass es keinerlei Sinn hat? Verlangt seine Absurdität, dass man ihm mittels der Hoffnung oder durch den Selbst-Mord entflieht? Das allein müssen wir herausbekommen [...].
Das Gefühl der Absurdität kann einen beliebigen Menschen an einer beliebigen Straßenecke anspringen. [...] Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Büro oder Fabrik, Essen, Straßenbahn, vier Stunden Arbeit, Essen, Schlafen, Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag, immer derselbe Rhythmus – das ist sehr lange ein bequemer Weg. Eines Tages aber steht das "Warum" da, und mit diesem Überdruss, in den sich Erstaunen mischt, fängt alles an.
"Fängt an" - das ist wichtig. Der Überdruss ist das Ende eines mechanischen Lebens, gleichzeitig aber auch der Anfang einer Bewusstseinsregung. Er weckt das Bewusstsein und bereitet den nächsten Schritt vor. Der nächste Schritt ist die unbewusste Rückkehr in die Kette oder das endgültige Erwachen.
[...]
Das Gefühl für das Absurde ist nicht gleichbedeutend mit dem Begriff des Absurden. Es begründet ihn nur in gewisser Hinsicht. [...] "Das ist Absurd" bedeutet: "Das ist unmöglich", aber auch: "Das ist ein Widerspruch in sich". Wenn ich sehe, wie ein Mensch sich mit blanker Waffe auf eine Maschinengewehrgruppe stürzt, dann werde ich sein Unternehmen absurd finden. Aber das ist nur auf Grund des Missverhältnisses zwischen seiner Absicht und dem, was ihn wirklich erwartet, auf Grund des Widerspruchs, den ich zwischen seinen wirklichen Kräften und seinem Ziele feststellen kann.
Ebenso erachten wir einen Urteilsspruch als absurd, wenn wir ihn dem durch den Tatbestand offensichtlich geforderten Urteil entgegenhalten. [...] In allen diesen Fällen [...] wird die Absurdität um so größer sein, je mehr meine Vergleichsobjekte voneinander abweichen. [...] Ich darf also wohl sagen, dass das Gefühl der Absurdität nicht aus der einfachen Untersuchung einer Tatsache oder eines Eindrucks entsteht, sondern dass es seinen Ursprung in einem Vergleich hat, in einem Vergleich [...] zwischen einer Handlung und der Welt, die stärker ist als sie. Das Absurde [...] ist weder in dem einen noch in dem anderen verglichenen Element enthalten. Es entsteht durch deren Gegenüberstellung.
Im Bereich und auf der Ebene des Verstandes kann ich also sagen, dass das Absurde nicht im Menschen [...] und auch nicht in der Welt liegt, sondern in ihrem gemeinsamen und gleichzeitigen Vorhandensein. [...] Ich habe es als eine Gegenüberstellung und einen pausenlosen Kampf definiert. [...] Das Absurde hat nur insofern einen Sinn, als man sich mit ihm nicht einverstanden erklärt.
[...]
Nun, wenn ich mich an die Lehren der Existenzphilosophie halte, so sehe ich, dass ausnahmslos alle mir ein Ausweichen vorgeschlagen haben. Sie gehen vom Absurden aus [...], und sie finden einen Grund zur Hoffnung in dem, was sie hilflos macht. Diese gewaltsame Hoffnung ist bei allen wesenhaft religiös. Sie verdient es, dass wir näher auf sie eingehen.
[...]
So komme ich wieder zu SCHESTOW. Ein Kommentator überliefert uns einen interessanten Ausspruch von ihm: "Der einzig wahre Ausweg liegt genau da, wo es nach menschlichem Ermessen keinen Ausweg gibt. Wäre es nicht so - wozu brauchten wir dann Gott? Gott wendet man sich nur zu, um das Unmögliche zu erreichen. Für das Mögliche genügen die Menschen." Wenn es eine SCHESTOWsche Philosophie gibt, dann ist sie darin gewiss vollständig enthalten.
Wenn SCHESTOW nämlich am Schluss seiner leidenschaftlichen Analysen die fundamentale Absurdität des ganzen Daseins enthüllt, sagt er keineswegs: "Hier ist das Absurde", sondern "Hier ist Gott: auf ihn dürfen wir uns berufen, wenn er auch in keine unserer Verstandeskategorien hineinpasst." [...] Man muss in ihn hineinspringen und sich mit diesem Sprung von allen rationalen Illusionen frei machen.
[...]
Noch einmal: diese Haltung ist berechtigt. Aber ich [...] habe nicht die Erhabenheit eines Gedankens oder eines Glaubensaktes zu untersuchen. [...] Ich will wissen, ob ich mit dem, was ich weiß, und nur damit leben kann.
[...]
KIERKEGAARD ruft und verkündet: "Wenn der Mensch kein ewiges Gewissen hätte, wenn [...] unter den Dingen sich die bodenlose, durch nichts zu füllende Leere verbärge - was wäre dann das Leben anders als Verzweiflung?" Dieser Schrei ist nicht dazu angetan, den absurden Menschen zurückzuhalten. Das Wahre suchen heißt nicht: das Wünschenswerte suchen. Wenn man sich, um der angstvollen Frage: "Was wäre dann das Leben?" zu entgehen, wie der Esel von den Rosen der Illusionen nähren muss, dann wird der absurde Geist, statt in der Lüge zu resignieren, sich lieber ohne Zagen KIERKEGAARDs Antwort zu eigen machen: "die Verzweiflung".
[...]
Meine Überlegung möchte dem Unabweisbaren, das sie aufgedeckt hat, treu bleiben. Diese Evidenz ist das Absurde. Es ist jener Zweispalt zwischen dem sehnsüchtigen Geist und der enttäuschenden Welt [...]. Es kann sich nicht darum handeln, das Unabweisbare zu maskieren, das Absurde zu unterdrücken [...]. Wir müssen wissen, ob wir damit leben können oder ob die Logik es verlangt, dass wir daran sterben.
[...]
Jetzt ist die Hauptsache getan. Ich verfüge über einige Wahrheiten, von denen ich nicht mehr loskomme. [...] Ich weiß nicht, ob diese Welt einen Sinn hat, der über mich hinausgeht. Aber ich weiß, dass ich diesen Sinn nicht kenne und dass ich ihn zunächst unmöglich erkennen kann. Was bedeutet mir ein Sinn, der außerhalb meiner Situation liegt? Ich kann nur innerhalb menschlicher Grenzen etwas begreifen. [...]
Und ich weiß außerdem: diese beiden Gewissheiten - mein Verlangen nach Absolutem und nach Einheit und das Unvermögen, diese Welt auf ein rationales, vernunftgemäßes Prinzip zurückzuführen - kann ich nicht miteinander vereinigen. Was für eine andere Wahrheit kann ich erkennen, ohne zu lügen, ohne eine Hoffnung einzuschalten, die ich nicht habe [...]?
Leben heißt: das Absurde leben lassen.
Das Absurde leben lassen heißt: ihm ins Auge sehen. [...] Einer der wenigen philosophisch stichhaltigen Positionen ist demnach die Auflehnung.
[...]
Hier sehen wir, wie weit die absurde Erfahrung sich vom Selbst-Mord entfernt. Man könnte meinen, der Selbst-Mord sei eine Folge der Auflehnung. Aber zu Unrecht.
[...]
Er ist dank der Zustimmung, die ihm zugrunde liegt, genau ihr Gegenteil. Der Selbst-Mord ist, wie der Sprung, die Anerkennung ihrer Grenzen. [...] Es geht darum, unversöhnt und nicht aus freiem Willen zu sterben.
Der Selbst-Mord ist ein Verkennen.
Aus: Albert Camus: Der Mythos des Sisyphos.
Ein Versuch über das Absurde.
(Le Mythe de Sisyphe, 1956).
Reinbek: Rowohlt 1959 (rde 90).
Keine Garantie für Orthographie.