Orgeluse hat geschrieben:Lieber Chron,
sei herzlich bedankt für Deine ausführliche Auseinandersetzung mit meinen Gedanken!
Liebe Orgeluse
Danke auch dir - deine Gedanken, vor allem aber deine Formulierungen deiner Gedanken, Weltübersichten, Gesellschaftsmuster- und Menschen-Zusammenfassungen usw., sind mir immer wieder eine Inspiration und mag ich gerne lesen. Du schaffst es irgendwie, mit weise-schmunzelnder Übersicht manches zu benennen und als auf den ersten Blick amüsant darzustellen, das "nackt", in nicht-deinem Stil, (mir) schier unerträglich wäre zu wissen, kennen, denken, lesen.
Ich hatte dich übrigens älter geschätzt als du es hier (in diesem Thread) kürzlich angegeben hast - und ich empfinde das als Kompliment (es geht hier ja nicht um Äußeres).
Orgeluse hat geschrieben:Für jetzt dies, denn vor allem daran bin ich heute hängen geblieben:
Chron hat geschrieben:meine frühere Arbeit (ein gut bezahltes Hobby)
Das klingt sehr angenehm und sehr ungewöhnlich für eine 'Erwerbsarbeit', wenn ich es mit dem Folgenden zusammenzudenken versuche:
Chron hat geschrieben: Ich fand mal Menschen und/oder die Welt grundsätzlich gut (mit einigen Ausnahmen), jetzt finde ich sie grundsätzlich schlecht. Ich wollte mal keinesfalls, dass die Menschheit aussterben würde (z. B. beim Jahrtausendwechsel wegen Computerpannen), jetzt hingegen wünsche ich mir das (und davon: ich zuerst)
,
dann stellt sich mir die Frage, warum sich das bei Dir so massiv geändert hat - kannst Du es benennen? Und: Kamen erst die Menschen- und Weltverachtung oder stellte sich zunächst der Verlust der Fähigkeit ein, in Deinem Beruf weiterhin tätig zu sein (ein Beruf, der sich, wie gesagt, reizvoll anhört; aber vielleicht auch ein wenig sehr 'zahm'?).
Das Hobby war die Computerei bzw. die Computer-Programmierung, oder, anders-unverständlicher ausgedrückt, die "IT-Branche", die "Informatik". Manchmal wunderte ich mich, dass nicht ich die Firma für die Benutzung ihrer Geräte bezahlen musste, sondern sie mich bezahlte. Ich sah mal aus dem Fenster, sah einen Straßenwischer und fand es irgendwie völlig unpassend, dass der mit all seiner Mühe nicht mal die Hälfte von mir verdiente. Dann kamen die großen blauen Kästen im Kleinformat auf den heimischen Tisch. Und ich hatte weniger Mühe, meinen Beruf, meinen Job, mein Hobby zu erklären.
Es ging aber immer nur um irgendwelche Daten-Ausgaben (und für mich um relativ abstrakte "Bit-Grübeleien"; mit intellektueller Begeisterung, aber ohne Einbezug irgendwelche Gefühle). So sehr ich so piekfeine Zusammenstellungen (und die Methoden, zu denen zu kommen), Statistiken (ohne tieferen Sinn; einfach meine Zahlen-Vorliebe) und Datenverarbeitungen (das hiess mal EDV = Elektronische Daten-Verarbeitung) u. Ä. mochte, immer schon gemocht hatte (Lochstreifen als Kind im Büro meines Vaters), bzw. deren Erstellung (wobei Einen der Computer ganz neutral korrigiert, das ist falsch, und jenes - aber nicht im Sinne von "du bist ein I.diot"), aber: Das war mir dann doch auf Dauer zu wenig, zu un-menschlich, ergab mir zu wenig Sinn/Weitergabe aus meinem Leben (Kinder wollte ich nie). Wenige Jahre nach meiner Pensionierung würden alle Arbeiten nur noch Müll sein (nachdem ich mal geglaubt hatte, z. B. die Programmierung einer Lohnabrechnung würde dann "ewig" laufen). Das war keine erfreuliche oder noch länger erträgliche Aussicht. ("labour's lost"? Nicht Verlust der Arbeit, sondern der Verlust der Resultate der Arbeit - wie immer das Englisch heisse).
Ich hatte noch viele Ideen - ich könnte noch studieren, z. B. Anwalt und/oder Psychologie, das gehört doch wohl oft zusammen, wenn jemand ein Problem hat, usw. ... Das hätte ich nicht als "Hobby" bezeichnen wollen (das würde für mich Menschen entwerten), und doch hätte ich auch das gerne getan, nicht nur des Geldes wegen.
Was sich geändert hat: Unmögliche Lebens- bzw. Wohn-Umstände; andauernder Lärm, Lärm-Stress, Schlafmangel, monatelang. Immunsystem klappt zusammen, es kommt zu Krankheiten, konnte mich nicht erholen, also wurden sie chronisch. Dazu noch ein Schlaganfall, eine Hirnblutung einer geplatzten offenbar schon lange oder von Geburt an kaputten Ader (Aneurysma). Musste erstmal wieder reden lernen (lesen/schreiben ging noch) ...
Und: Nein, "zahm" war das Tun/"Arbeiten" nie. Jedenfalls nicht für mein Empfinden. Ausdrücke wie "Computerfreak" oder so. Ich wurde auch nicht zahm. Wehrte mich für mein Existenzminimum über Gerichte (vorher hatte ich meine Beiträge ans "Allgemeinwohl" auch bezahlt!). Wurde immer entsetzter über abstruse Ideen von Leuten, die nie Pech in ihren Leben gehabt hatten; die Menschen in Zahlen ausrechnen, welchen sie selber niemals entsprechen könnten. Die Wut ist manchmal noch mein einziger Kraftimpuls. Führt aber auch nicht mehr zu einem guten Leben. Eher zu (Haushalts-)Unfällen. Weil die körperliche Erschöpfung nicht mit geistigen Mitteln zu ändern ist.
Die Menschen- und Welt-Verachtung kam danach. Mit allen Erfahrungen, wie man keine Hilfe bekommt, obwohl man angeblich welche zugute hätte. Wie nur noch versucht wird, jemanden zu eigenem Nutzen zu missbrauchen: Da hockt der/die Gesunde in seinem/ihrem Büro, in seinem/ihrem selbst gewählten Beruf und Job, und bestellt sich die Kranken/Behinderten zu Sitzungen ein, für die er/sie wiederum bezahlt wird. Wie das für den andern Menschen ist, interessiert so jemanden überhaupt nicht. Und geholfen wird auch nicht. Die ganze Situation für den Hilfsbedürftigen wird damit nur noch schlimmer. Bis er/sie so erschöpft ist, dass er/sie aufgibt. Wonach es dann plötzlich umdreht: Er soll weiter leben. Aber wozu? Für wen? Mit welchen inneren Motiven, Erfolgserlebnissen, Tätigkeiten, Freuden? Diese Frage bleibt dann antwortlos.
Chron hat geschrieben:Manchmal habe ich den Eindruck, dass genau das, diese "Planung", diese "Wo wollen Sie in fünf, in zehn, in fünfzehn Jahren sein"-Assessmentcenter-Frage, dieses langfristige in die Zukunft Denken, uns alle zunehmend beschädigt.
Ein so typisches Beispiel des "Orgeluse-Stils". Solche Gedanken hatte ich nämlich nie. Als Kind schon nicht: "Was willst du mal werden?" Hääh? WERDEN? Ich BIN schon etwas/jemand! Aber ich habe dann mitbekommen, wie Andere sich für einen Job, eine Anstellung, abstrampeln müssen. Als wäre "Arbeitsangebot" so etwas wie ein Lotto-Sechser oder sonst irgendwie ein abzugebendes wertvolles Ding, um das man sich "bewerben" (nicht mehr: vorstellen, was man arbeiten könnte) müsste. Es ging/geht nicht mehr darum, das zu tun, was man gerne tut, und/oder gelernt hat (weil man es lernen wollte, mochte). Es wird nicht mehr nach der Arbeitskraft gegiert, die entsprechend bezahlt wird. Kein Chef sucht mehr Angestellte, Mitarbeiter, Leute die seinen Betrieb am Laufen halten (und ihm letztlich auch sein Einkommen bescheren). Nein, nun wird das zu einer Art Markt, von Arbeit-Gebern, Arbeit-Nehmern (was für ein Unwort! Arbeitende sind das doch!), und vielen Vermittlern. Worum geht es überhaupt? Oft kaum noch zu erkennen. Manchmal doch. Wenn ein Handwerker seinen Job gut macht und Freude am Resultat hat - ebenso wie der Kunde (z. B. ich). Was seinen Chef aber längst nicht mehr interessiert.
Auch wenn ich gesund gewesen bzw. wieder geworden wäre, hätte ich in diese "Arbeitswelt", so losgelöst von allem Menschlichen, nicht mehr gepasst. Solche Fragen rund um "Assessment" (das Wort ist mir auch begegnet - was es wirklich heisst, weiss ich bis heute nicht, und die dafür Zuständigen wissen es offensichtlich auch nicht, aber "tönt doch gut", oder? Meinen sie ...) könnte ich nie beantworten. Für mich ist das Leben eine Entwicklung. Ein laufender Fortschritt mit unbekanntem Ende/Zielpunkt - und es kann auf der Skala umdrehen und mit der Kurve nur noch abwärs gehen. Also als Antwort, wo möchten Sie in ... Jahren sein: Ich möchte gar nicht mehr sein, bzw. ich möchte nirgendwo mehr sein! (Wie wäre da dann wohl die Reaktion?

).
Orgeluse hat geschrieben:Diese westliche postindustrielle Gesellschaft lernt doch seit etlichen Jahren, dass ihre Ideologie der Selbst-Planung, des langfristigen Selbstschmiedens seines 'Glücks', kompletter Schwachsinn ist, nämlich eine Zurichtung (wie alle Ideologie), die nur den Sinn hat, das Subjekt (lat. subjectum: Das Unter-worfene!) für ein Erwerbsleben im nunmehr finanzkapitalistischen Verwertungszusammenhang abzurichten.
Ja ...
Kürzlich eine Werbung am TV einer "Hilfs"-Organisation (wobei aber das Wort "Hilfe" nicht fiel - da muss ich noch umlernen, umdenken): Jedes 10. Kind lernt nicht lesen/schreiben.
Ja, und? Vielleicht lernt es Wertvolleres!
Aber wenn man körperlich erschöpft, krank, behindert ist, kommt "Auswandern" auch nicht mehr in Frage.
Das Glück entsteht jedenfalls nicht aus Materiellem. Aber wer materiell-körperlich nicht mehr gesund ist, kann auch nicht mehr glücklich werden.
Orgeluse hat geschrieben:Ich würde mich manchmal gern darin üben, die Zwischenbilanz eines Tages, ja einer Stunde zu ziehen.
Und ich würde vor allem gern auf dieses ökonomische Vokabular verzichten - merke ich gerade, angenervt von meiner eigenen Wortwahl.
Ein Großvater - den ich nicht mochte (er schlug allzugerne zu; meiner Mutter als Kind und dann auch mir gegenüber) - sagte mal, er frage sich am Ende jeden Tages, wie der Tag gewesen sei. Was er gebracht, bewirkt habe. Damit schlafe er dann ein.
Eine Tagesbilanz also. Das finde ich eine schöne Idee.
Aber sie entspricht mir nicht. Ich schaue weniger in die Vergangenheit (jedenfalls nicht in einer solchen bilanzierenden Art - die dann allzuleicht wohl auch in eine arrogante Über-sicht, was man selber angeblich alles "gut" gemacht habe, mündet), als dass ich mich aktuell in irgendeinem Prozess befinde. Der durch Schlaf/Tage nur unterbrochen wird.
Egal was ich in einem Tag, einer Stunde, getan oder nicht getan habe: Es ist vorbei.
"Wu wei" - Handeln durch geschehen Lassen.
Zwischenbilanzen kann man (ich) vielleicht erst später ziehen. Wie war es damals, zwischen ... und ... . Das Jetzt aber ist kein Dazwischen. Denn die unbekannte Zukunft ist etwas ganz anderes als die erlebte Vergangenheit.
Orgeluse hat geschrieben:Und noch eine Kleinigkeit, die ich weiterhin schuldig geblieben bin (da! Schon wieder diese Krämersprache! Sie sitzt ganz tief, auch auf dem Grund unserer Metaphern):
Chron hat geschrieben: Und was ist mit "wenn es nicht - wie es ja in so vielen Fällen geschieht - ungeplant und später endet"?
Uh, sorry, immer noch nicht verständlich formuliert! Ich meinte einfach nur mein letztes Lebensjahr: Wenn das nicht (wie so oft) ungeplant endet, oder doch später als von mir gewünscht endet, dann werde ich es zu seiner Zeit, wenn es abgelaufen ist, beenden (so hoffe ich zumindest jetzt immer noch).
Also du gibst dir noch maximal ein Jahr, dann möchtest du dein Leben beenden und denkst, du kannst das dann auch?
Ein Jahr ist ein vielleicht noch einigermaßen überschaubarer Zeitrahmen.
Ich möchte/kann mir kein Jahr mehr vorstellen.
Orgeluse hat geschrieben:______________
Meine heutige vergebliche Lebensmüh:
Ich habe mit der Seite 100 gekämpft - und gewonnen. (Auf das morgen mit Seite 102 weitergekämpft werde.)
Ich habe den passenden Vers immer noch nicht gefunden.
Ich habe einen neuen Gas-Vertrag abgeschlossen und spare ab Januar angeblich 10 Euro im Monat - das ist, jedenfalls auf antiquarischem Wege, fast ein gutes, gebundenes Buch (und damit das Suizidantenfutter par excellence).
Vergeblich? Wenn die Seite 100 doch gelungen, fertig ist - und der neue Gas-Vertrag abgeschlossen ist?
Also war es, für mein Verständnis, nicht vergeblich.
Meine heutigen vergeblichen Liebesmühen, oder Lebensmühen (wie nun genau?): Mühe wozu? Ich rechne ja gar nicht mehr mit einem Erfolg, einer Besserung. Also gibt es auch keine Bewertung von "vergeblich" mehr.
Aber bei Gas fällt mir Strom ein: Eine krasse Erhöhung um rund einen Drittel der Preise wurde mir in einem Brief mit Tabelle dargelegt. Egal wie ich rechnete: Ich kam nie auf deren Zahlen. Also eine Mail an deren Kundendienst. Antwort: Die Tabellenzahlen waren falsch; im Anhang die korrigierte Tabelle. Was soll ich nun damit? Einerseits: Die Erhöhung ist etwa halb so groß wie zuerst behauptet (aber damit immer noch viel zu hoch - wo soll ich das einsparen können; beim Essen oder ...? PC abstellen, nicht mehr fernsehen, nichts mehr zum Essen aufwärmen ...?). Andererseits: Also die ganzen Rechnereien mit den falschen Zahlen "vergebliche Liebesmüh'". Die Mühe, zu verstehen, warum es mir NOCH schlechter gehen soll, ab nächstem Jahr (das ich sowieso nicht mehr erleben möchte).