Ein schönes Gleichnis für die Sinnfrage des Leids

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salvation
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Ein schönes Gleichnis für die Sinnfrage des Leids

Beitrag von salvation »

Ein Auszug aus einem Text den ich gefunden habe - auch wenn mir bewusst ist, dass dieser Text in gewissen Krankheitszuständen und Situationen eventuell nur wenig hilfreich ist, wollte ich ihn trotzdem gerne teilen …

„Verwundete Austern
lassen aus blutigen Wunden
eine Perle entstehen.
Den Schmerz, der sie zerreißt,
verwandeln sie in ein Juwel.“

(Richard Shanon)

Zur näheren Erläuterung dieses Leitmotivs soll so etwas wie eine Kindergeschichte beitragen, in der eine erfahrene weise Auster einen kleinen Auster-Nachkömmling ins Leben einführt und ihn den Sinn seiner Existenz verstehen lassen möchte. Zusammengerafft klingt das dann so:

Unter den Austern, so erklärt die weise Alte dem Kleinen, gibt es eine besondere Art, die zur Gattung der Perlmuscheln gehört. Die Perlmuscheln empfinden diese ihre Zugehörigkeit wie eine Art Auserwählung, denn sie haben eine Kraft, die die anderen Muscheln nicht haben: sie können Perlen bilden. „Das ist unser großer Reichtum, aber auch unser großer Schmerz“, so lautet die Erklärung der Alten, „denn ohne Leiden und Schmerzen gibt es keine Erwählung.“

Es verhält sich nämlich so: wenn sich die Muscheln öffnen, um Nahrung aufzunehmen, dann kann es geschehen, dass trotz aller Vorsicht ein Sandkorn, ein winziger Stein oder ähnliches mit in das Muschelhaus gelangt. Und weil die Muschel selbst einen sehr weichen, verletzlichen Körper hat, ist das jeweils ein großer Schmerz, wenn sich so ein Sandkorn in ihr Fleisch eingräbt. Das Sandkorn wird nie mehr wieder nach außen hin abgestoßen, doch dafür beginnt nun eine wunderbare, geheimnisvolle Kraft zu wirken, so dass aus dem Sandkorn eine Perle werden und wachsen kann. Der Organismus der Muschel muss sich nun anstrengen, – schon zum eigenen Schutz – Säfte zu entwickeln und auszustoßen, die das Sandkorn immer mehr umhüllen, so dass auch die Schmerzen für die Auster im Laufe der Zeit erträglicher werden. Schicht auf Schicht wächst, und je länger das Sandkorn in der Muschel ist, desto schöner wird die Perle. Doch davon sieht niemand etwas, das wird erst sichtbar, wenn die Muschel tot ist. Dann zeigt sich, wenn man das Gehäuse öffnet, wie viele Sandkörner darin unter Schmerzen zu Perlen werden konnten und wie reich ein solches Leben war. Die Muschel selbst erfährt sozusagen nur die negative Seite dieses Werdens und erleidet den Schmerz des eindringenden Fremdkörpers. Aber würde sie den Schmerz des in sie eindringenden Korns nicht zulassen und ausgestalten, – würde sie sich erst gar nicht öffnen, – dann verfehlte sie den Sinn ihres Daseins, und ihr Leben bliebe arm und leer. Wenn aber der Schmerz, der in die Perlmuschel eindringt und sie verletzt, bejaht und angenommen wird, – wenn er gleichsam zu ihrem Leben gehört, – dann kann sich Verwandlung anbahnen und eine kostbare Perle entstehen. „Den Schmerz umwandeln in ein Juwel“ – in einem ersten Schritt: durch Annahme der Leiderfahrung und des Schmerzes.

Das alles kann uns ein Gleichnis werden bei dem Versuch, den Sinn von Leiden und Schmerzen zu ergründen, – auch wenn uns der Sinn letztlich verschlossen bleibt. „Ich weiß nicht um den Sinn dessen, was mich als harter Schicksalsschlag trifft“, so sagte einmal Dietrich Bonhoeffer zur Sinnfrage, „aber ich weiß um den, der den Sinn kennt.“
OutofOrder
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Re: Ein schönes Gleichnis für die Sinnfrage des Leids

Beitrag von OutofOrder »

Für wahr eine wunderbare "Kindergeschichte", in der wohl mehr Weisheit steckt, als man in den meisten derartigen Geschichten vermuten würde..

Schmerzvolle Erfahrungen, ihre Bewusstwerdung, reflektive Verarbeitung und folgliche Akzeptanz gehören für mich persönlich sowieso zu den fundamentalsten Grundlagen für innere Wandlung und "Menschwerdung". Indem man erlebten Schmerz, das eigene (gefühlte) Versagen oder traumatische Lebenserfahrungen bewusst annimmt und in der Folge in proaktiver Weise darauf aufbaut, erfährt man gleichsam eine innere Läuterung und Demut, eine Art von Sensibilisierung (wie ich sie zumindest empfinde), die einen naturgemäß hellhöriger und feinsinniger für jegliche Art von emotionalen Mustern, von subtilen, zwischenmenschlichen Grau- und Zwischentönen und vor allem für Phänomene des sogenannten Alltags macht, die sich diesem Alltag so gar nicht unterordnen, sondern vielmehr entziehen und darüber hinauswachsen (in allen nur erdenklichen Bereichen).

"Ohne Leiden und Schmerzen gibt es keine Erwählung", das ist gleichsam poetisch wie zutiefst wahrhaftig. Nur durch Schmerz und Verzicht lernt der Mensch sich seiner selbst wirklich zutiefst gewahr zu werden, sich in Frage zu stellen und sich den ganz eigenen "Aufgaben" des Lebens zu stellen, und gleichsam "über sich selbst" hinauszuwachsen.. wobei ich selbst persönlich nicht behaupten würde, beim letzten Punkt bislang sonderlich erfolgreich gewesen zu sein, aber zumindest wird mir zunehmend mehr erkennbar, dass mich dieses Leben und seine Bewältigung (in meiner ganz persönlichen Weise) auf neue und erfüllende Erfahrungen vorbereiten kann, die sich für mich in einer neuen Formgebung bewahrheiten und verwirklichen werden.
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