Authentisch leben?

Themenbezogene Diskussionen, die sich nicht nur auf eine Person beziehen; Ursachen und Auslöser für Depressionen und Daseins-Ängste; Bewältigungsstrategien bei Lebensmüdigkeit; psychische Krankheitsformen; Suchtkrankheiten; Alkohol-, Drogen- und Medikamenten-Abhängigkeit; Beziehungsprobleme

Moderatoren: Ludwig A. Minelli, Mediator

so-lebt-der-lurch
Beiträge: 247
Registriert: Freitag 22. Juli 2011, 18:34

Re: Authentisch leben?

Beitrag von so-lebt-der-lurch »

ich glaube wenn es einem gerade gut geht, ist es relativ einfach authentisch zu sein bzw. sich so zu fühlen. Geht man mit einem Strahlen raus in die Welt, strahlt es von überall her dankbar zurück, jeder will ja gut drauf sein. Und diese artgenössischen Reaktionen motivieren einen selber wiederum zu weiterem Strahlen. So ein psychologischer Ping-Pong-Effekt das ist.
Ist man dagegen offensichtlich missgestimmt unterwegs fördert das in gleicher Weise einen negativen Effekt. Daher ist es wohl für alle Beteiligten besser, diese Laune zu verbergen.
Vielleicht war man gerade in dem Augenblick am authentischsten, wenn einem im darauffolgenden klar wird, dass man sich gerade völlig daneben benommen hat? :)
Es gibt ja auch bestimmte Flüssigkeiten, die Authentizität fördern. Ich konnte schon des öfteren beobachten, dass bei vielen die Authentizität mit der Menge an leergetrunkenen Gläsern deutlich zunimmt ...
TheBest_Chan
Beiträge: 80
Registriert: Sonntag 22. Juli 2012, 02:19

Re: Authentisch leben?

Beitrag von TheBest_Chan »

Arno Gruen hat sich in einem seiner Bücher mit dem Begriff der Autonomie befasst, und hat damit wohl etwas ähnliches gemeint wie Authentizität.
Zitat Buchrücken (da es hier ja auch um die Definition des Begriffes ging):
"Arno Gruen erfasst hier eine Grunddimension des mitmenschlichen Daseins: den Begriff der Autonomie, der nicht Stärke und Überlegenheit meint, sondern die volle Übereinstimmung des Menschen mit seinen eigenen Gefühlen und Bedürfnissen. Wo sie nicht vorliegt, entstehen sowohl Abhängigkeit wie Herrschaftsanspruch."
Ich persönlich bin alles andere als authentisch. Sicher strebe ich diesen Zustand an, bin daran aber bisher kläglich gescheitert.
berlinichbins
Beiträge: 218
Registriert: Dienstag 25. September 2012, 11:37

Re: Authentisch leben?

Beitrag von berlinichbins »

wie schön, was der gruen sagt. kurz prägnant und stimmig. genau, Autonomie ist wohl das was ich authentisch nenne:-)
Thanatos
Beiträge: 1580
Registriert: Freitag 5. Februar 2010, 10:48

Re: Authentisch leben?

Beitrag von Thanatos »

berlinichbins hat geschrieben:... genau, Autonomie ist wohl das was ich authentisch nenne:-)
Die Begriffe sind zwar verwandt, was man schon aus der Vorsilbe ersehen kann. Da das griechische Wort αύτός (autos) ja schlicht und ergreifend mit „selbst“ zu übersetzten ist, sind wir aber wieder beim weiter oben von mir angesprochenen Hauptproblem, nämlich dass man zuvor sich selbst - soweit überhaupt vorhanden - gefunden haben müsste, um autonom bzw. authentisch handeln und leben zu können. Also: Gibt es mich überhaupt? Falls ja, wer bin ich? :wink:
berlinichbins
Beiträge: 218
Registriert: Dienstag 25. September 2012, 11:37

Re: Authentisch leben?

Beitrag von berlinichbins »

stimmt, lieber thanatos. das selbst ist da, verbuddelt, manchmal mehr, manchmal weniger - nur man braucht wie eine art fähigkeit es auch wahrnehmen und ernst nehmen zu können. "wer bin ich?" - ist ein weg, es ist ein Prozess, es gibt keine möglichkeit, es schnell zu beantworten. und das "ich" wird auch immer wieder im wandel sein, wenn es wirklich lebendig lebt :D
Seelenschmerz
Beiträge: 401
Registriert: Montag 28. Dezember 2009, 16:35

Re: Authentisch leben?

Beitrag von Seelenschmerz »

Aber woher weiß ich, wann ich authentisch bin?

Wann kontrollieren mich meine Introjekte, meine Gene, meine Sozialisierung, meine Lehrer, meine Eltern, meine Triebe, meine Persönlichkeitsstörung?
In meiner Wahrnehmung bin ich meine Gefühle, meine Gedanken, meine Lebensgeschichte, meine Herkunft, mein Beruf, mein Körper, meine Träume, meine Ängste usw.
Aber das ist doch alles aufgezwungen, fremdbestimmt, siehe oben. Als Baby ist man wie ein leerer Topf, wo jeder unzulässiges Wort seine Exkremente reintut.
Das will ich alles gar nicht, also bin das nicht ICH.

Und wann bin ICH es? Wer bin ich? Woher weiß ich, wann ich es bin?

Welche meiner Gefühle oder Wünsche sind denn selbst-bestimmt???

Okay, Selbstfindung ist wie Zwiebelschälen. Aber was weiß ich, bei welcher Schale ich bin und wem die gehört?
Wenn alle Schalen weg sind, wird man vielleicht erkennen, dass nichts übrig bleibt?
berlinichbins
Beiträge: 218
Registriert: Dienstag 25. September 2012, 11:37

Re: Authentisch leben?

Beitrag von berlinichbins »

du bist das, was unter dem ganzen schutt der Sozialisation liegt. der grund im topf.leider kann man erst merken, wenn man es wirklich innerlich erfährt authentisch zu sein, was authentisch ist. deshalb muss man einen weg bis dahin gehen und weiß nicht, wann dieser zustand eintritt. aber hier vielleicht dinge, die du evt. jetzt schon spüren kannst: fühlst du dich allein? wenn ja, dann bist du es(auch wenn dich erst der schutt der anderen menschen zu diesem Gefühl gebracht haben) fühlst du eine Sehnsucht? wenn ja, dann ist das deine Sehnsucht. an sehnsüchten kann man gut erkennen, wer man selbst ist "gerade im moment"
fühlst du Wut? wenn ja, dann bist du das(egal worauf du wut hast und was dich dazu gebracht hat) fühlst du Neid? wenn ja, dann bist du das auch(egal, ob erst deine sozialisation gemacht hat) aber im moment bist du es. und dann kann man sich folgende frage stellen: will man so sein? will man anders leben? wenn ja, dann gehts auf zu neuen ufern. dann geht es über einen langen Prozess immer tiefer zum Grund und du kannst anfangen so zu sein, wie du sein möchtest. und kommst mehr zu den gefühlen, die sich gut anfühlen. und diese zu leben ist ein kleines wunder. gleich vorab: es geht darum alles zu leben, nicht nur positives, und auch alles bei sich annehmen zu können. heilung erfolgt nur über Annahme. und dann kann ein ICH immer mehr platz in deinem leben haben. du hast dieses ICH jetzt schon, nur ist es noch nicht so fassbar.

jede schale gehört dir. nur die Macher sind andere, aber im moment ist es deine. und man muss sozusagen den Mist der anderen erstmal ausbaden. bevor man an den kern unter den schalen ankommt. und nein, darin ist kein nichts. deshalb lohnt es sich auch zu schälen:-)
Seelenschmerz
Beiträge: 401
Registriert: Montag 28. Dezember 2009, 16:35

Re: Authentisch leben?

Beitrag von Seelenschmerz »

Na schön, du hast misch erwischt. Mein Zynismus, Bitterkeit, Sehnsucht, Schmerz, Trauer, Wut, Neid, Hass, das kommt aus mir, ja auch vollkommen zu recht.
Aber was nützt es mir. Bald bin ich ein verbitterter alter Mann, der nie gelebt hat, aber vollkommen authentisch. Ich kann jetzt nicht mehr den Kindergarten nachholen, oder das Gymnasium, oder das Studium, oder private Dinge, Bindungen, Beziehungen, Freundschaften, schon gar nicht in dem Alter von damals. Also konnte sich mein Selbst nicht entwickeln, da keine positiven Erfahrungen, also keine Integration in die Gesellschaft. Aber was bringt mir diese Erkenntnis JETZT???

Oder ich arbeite hart an mir, dann bin ich mit 80 Jahren vielleicht seelisch gesund, aber ein Greis. Also was bringt es mir???
Hegesias
Beiträge: 27
Registriert: Donnerstag 13. Dezember 2012, 22:53

Re: Authentisch leben?

Beitrag von Hegesias »

"Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Bestandteilen neu errichten zu können." (Otto Neurath)

Das gilt auch für den Charakter und das Leben. Wir können uns nicht vollständig von unseren Wurzeln befreien und neu anfangen, aber trotzdem können wir unser Leben und unsere Denkweisen ändern. Zumindest in einem gewissen Rahmen.

Oder ich arbeite hart an mir, dann bin ich mit 80 Jahren vielleicht seelisch gesund, aber ein Greis.
Seelische Gesundheit ist ein relativer Begriff. Vielleicht sollte man das nicht so ernst nehmen :D

Das empfiehlt sich generell.
so-lebt-der-lurch
Beiträge: 247
Registriert: Freitag 22. Juli 2011, 18:34

Re: Authentisch leben?

Beitrag von so-lebt-der-lurch »

Seelenschmerz hat geschrieben: Oder ich arbeite hart an mir, dann bin ich mit 80 Jahren vielleicht seelisch gesund, aber ein Greis. Also was bringt es mir???
Dann kannst du doch immerhin im Altenheim für gute Stimmung sorgen, ist das etwa nichts? :twisted:
berlinichbins
Beiträge: 218
Registriert: Dienstag 25. September 2012, 11:37

Re: Authentisch leben?

Beitrag von berlinichbins »

es ist wahnsinn, wie man sich selbst vor veränderung schützt, imdem man glaubt, es ist jetzt zu spät und es würde bis an lebensende dauern. das waren mal meine Worte:-)

dem ist nicht so:-) es gibt die möglichkeit innerlich ganz viel nachzuholen. man kann sagen, dass man innerlich auf der stufe stehen geblieben ist, in der die verletzungen anfingen. wenn das im säuglingsalter passierte, dann kann man da heute noch ansetzen. und es geht schneller als die 40 jahre, die man schon hatte. wenn erstmal ein grundvertrauen zu dir selbst und die Welt entstanden ist, kann es sein, dass du dich sehr schnell entwickelst.ein rückfallen wird immer wieder möglich sein, aber jeder rückfall, kann auch wieder im anschluss entwicklung bedeuten.

ja, bei mir z.b. war ich wieder ein kleiner Säugling, der endlich in den augen der Therapeutin und ihrem warmen lächeln, etwas liebe bekam, mich von ihr wiegen lies und mich im tragetuch ankuschelte. das dauerte lange an. in meinen fantasien kümmerte sie sich um mich. ich wurde von ihr nochmal geboren. das hört sich total heavy an, aber es hat zu meiner Heilung sehr beigetragen.ein nächster schritt war, dass ich mir die Mutter war und auch hier nochmal nachholte. mittlerweile bin ich eher in Richtung "Pubertät" bei ihr unterwegs, d.h. 3 jahre waren es bei mir persönlich vom baby bis zur 16-jährigen. aber ich bin auch Frau, es ist immer beides vorhanden. und für sich zu sorgen, das braucht jeder mensch - nicht nur kleine Kinder, es gibt also nicht dieses: jetzt bist du erwachsen und hast keine bedürfnisse mehr zu haben. damit geißeln sich gar nicht mal so wenige menschen, die ich in meinem leben kennengelernt habe.:-(
Seelenschmerz
Beiträge: 401
Registriert: Montag 28. Dezember 2009, 16:35

Re: Authentisch leben?

Beitrag von Seelenschmerz »

Aber ich habe es satt, ein elender Bettler zu sein in dieser Welt, und immerzu getreten zu werden wie ein reudiger Hund. Ich habe es satt, mich immer mehr anstrengen zu müssen, als andere..
Wieso soll ich mich noch bedanken für alles, was das Leben mir angetan hat?
Wo ist der Sinn, dass man ein Leben lang nur kämpfen muss?
Manche sagen, lieber aufrecht sterben als knieend leben..
Wie soll ich mir denn meine Bedürfnisse erfüllen? Ich besitze ja noch nicht mal Schusswaffen, und auch sonst keine Macht..
Hans
Beiträge: 247
Registriert: Mittwoch 6. Juli 2011, 18:57

Re: Authentisch leben?

Beitrag von Hans »

Wurdest Du quasi vom Leben niedergemetzelt ?
Thanatos
Beiträge: 1580
Registriert: Freitag 5. Februar 2010, 10:48

Re: Authentisch leben?

Beitrag von Thanatos »

Seelenschmerz hat geschrieben:..
Manche sagen, lieber aufrecht sterben als knieend leben..
...
Oder wie wir in Schillers Tell lesen können: „Lieber den Tod, als in der Knechtschaft leben.“
Würde man nun seine Authentizität bestätigen, wenn man diesem Zitat die Tat folgen ließe?
Beste Grüße,
Thanatos
Seelenschmerz
Beiträge: 401
Registriert: Montag 28. Dezember 2009, 16:35

Re: Authentisch leben?

Beitrag von Seelenschmerz »

Hans hat geschrieben:Wurdest Du quasi vom Leben niedergemetzelt ?
Wie meinst du das?
Antworten