Lena-Marie hat geschrieben:
Thomas_S. hat geschrieben:Wie diese Typen reagieren würden, die höchstwahrscheinlich ebenso dick im Saft stehen wie "Pruder Paulus" selbst
Wie bitte? In welchem "Saft stehen die"?
"Es gibt keine dummen Fragen, sondern nur dumme Menschen."
(South Park)
Dennoch antworte ich dir gern.
Am Vorabend der französischen Revolution von 1789 herrschte in den "Chefetagen" der Grande Nation der föhlichste Feudalismus, während ein Großtel des Volkes in bitterster Armut lebte. Als dies der Gattin des letzten absolutistischen Monarchen Louis XVI, Marie Antoinette, zu Ohren kam, soll sie gesagt haben: Na, wenn das Volk nicht genug Brot hat, warum isst es dann nicht einfach Kuchen ... ?
Soweit ich informiert bin, ist es unter Historikern umstritten, ob dieser Satz wirklich gesagt wurde, geschweige denn, ob er wirklich von Marie Antoinette stammt. Einig sind sich die Historiker hingegen in der Beurteilung, dass solch ein Satz von bestimmten Leuten der Oberschicht durchaus hätte fallen können, bevor es am 14. Juli zum Sturm auf die Bastille kam, der ja den ganzen Wirrwarr der nächsten Jahrzente dann ausgelöst hat. Die heutige Lesart will, dass das von der Oberschicht gar nicht mal zynisch gemeint war, sondern einfach nur Ausdruck ihrer Ignoranz und Stupidität war.
Jedenfalls sehe ich diesen leidenschaftlichen Bruder Paulus in genau dieser Tradition.
Genauso wie Marie Antoinette (oder sonstwer aus ihren Kreisen) es sich erlaubt hat, kurz mal gut gemeinte Ratschläge an Leute zu erteilen, von deren Lebensumständen sie keine Ahnung hatte, und anschließend wieder zum Spielen und Musizieren überzugehen (oder was die Reichen halt damals so gemacht haben), so erlaubt es sich auch Bruder Paulus kurzerhand, einem Querschnittsgelämten das Recht abzusprechen, nach 10 Jahren Quälerei selbst in den Tod zu gehen ... bloß um anschließend auf seinen eigenen zwei gesunden Beinen fröhlich in die Welt hinauszuhüpfen. Von Verständnis, Mitgefühl oder auch nur Entgegenkommen habe ich bei dem Auftritt von Bruder Paulus jedenfalls nichts gespürt. Nicht mal den Versuch, das zu simulieren. (Was wiederum bemerkenswert ehrlich ist.)
Stattdessen einfach nur die Botschaft:
"Sowas darf man nicht, weil das der liebe Gott halt nicht will! Punktum!"
Doch damit nicht genug: In der Sendung zu Gast war auch ein Herr aus der Schweiz, dessen Frau an Alzheimer erkrankt war und die noch mit klarem Kopf für sich die Entscheidung getroffen hat, dass sie nicht jahrelang desorientiert und angsterfüllt in irgendeinem Pflegeheim dahinvegetieren möchte.
Wer diesen Wunsch überhaupt nicht nachvollziehen kann ... bitte melden!
In der Schweiz ist das möglich, da dort andere Gesetze gelten als z.B. bei uns in Deutschland.
Darauf musste aber natürlich auch wieder Bruder Paulus reagieren.
Und das hat er dann ja leider auch getan, ohne dass ihn jemand groß dran gehindert hat!
Und die erste Frage, die diesem Bruder einfiel, war, warum der Schweizer seiner Frau denn eigentlich nicht eigenhändig die Pulsadern aufgeschlitzt hätte. Für diesen hochrangigen Geistlichen, der von seiner Diözese (oder wie das heißt) sogar für fernsehtauglich befunden wurde, ist also offenbar nicht mal der Unterschied spürbar zwischen einem sanften selbstbestimmten Tod und einem blutigen und schmerzhaften Massaker.
Der Herrgott möge jeden Hilfesuchenden davor schützen, an einen solchen "Seelsorger" zu geraten.
"Bruder" Paulus hat sich m.E. durch seinen ebenso vehementen wie unangemessenen Auftritt für alle möglichen pathologischen Diagnosen angeboten ... aber auf Alzheimer würde ich als Laie spontan nicht tippen. Dazu war er dann doch noch zu clever und zu redegewandt. - Fazit: Bruder Paulus hat auch hier wieder mal die "Marie Antoinette" gegeben, die kurzerhand über das Schicksal von Mitmenschen urteilt, von dem er selbst keine Ahnung hat - jedenfalls nicht aus eigener und wahrscheinlcih nicht mal aus unmittelbarer Erfahrung - und die das wahrscheinlich auch nicht mal interessiert.
Wie gönnerhaft der Typ mit den Insassen von Pflegeheimen umgeht, wenn er die alle Jubeljahre mit seinem Besuch beehrt, das kann ich mir lebhaft vorstellen.
Um es diplomatisch zu formulieren:
Für mich wäre der Besuch eines Geistlichen, der so drauf ist wie Bruder Paulus, nicht unbedingt ein Grund, mich nicht vorher zu suizidieren. Eher im Gegenteil. Wenn die offiziellen Kirche so drauf ist wie Bruder Paulus (weil alle fähigen Seelsorger dort rausgeekelt wurden), dann ist die offizielle Kirche zu Recht im Sterben, und ich weine ihr nicht mal eine Träne nach. Im Gegenteil. Vielleicht wird es dann Zeit, eine neue Kirche zu gründen. Eine Kirche der Menschlichkeit, des Mitgefühls und des Nachdenkens, bevor man ein Urteil fällt.
"Bruder Paulus" hat unter Beweis gestellt, dass er in der Lage ist, ein Urteil zu fällen, ohne vorher auf den Einzelfall eingehen zu müssen. Wer nicht bereit ist, unter allen Umständen Ja zum leben zu sagen, ist ein Verdammter.
Und das versteht der Bruder für sich selbst offenbar sogar als Kraftquell.
So wie ich ihn verstanden habe, bezieht er seine Legitimation daraus, dass er sich selbst als Sprachrohr Gottes begreift.
Darum nennt er ja wohl auch Paulus. Da ist also wohl ein massives Sendungsbewusstsein im Spiel.
Bloß frage ich mich dann ... warum vergeudet dieser selbsternannte Gottesbote eigentlich seine Zeit und seine Kraft damit, in Talkshows irgendwelchen Gästen publikumswirksam ein schlechtes Gewissen reinzuwürgen, anstatt in der Welt herumzureisen und möglichst viele Kranke zu heilen?!?
Fazit: Auch für den psychologisch Ungeschulten ist vermutlich erkennbar, dass dieser "Bruder Paulus" (wer auch immer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt) zunächst ein massives Problem mit sich selbst hat, was ihn dazu bewegt, die Möglichkeit des Freitodes rigoros abzulehnen. Das ist erst einmal seine Privatsache.
Normalerweise würde so jemand m.E. eher in Behandlung gehören als manch einer, der sachlich und nüchtern über Freitod nachdenkt.
Problematisch ist jedoch, wenn so jemand Seltsames als offizieller Kirchenvertreter im Fernsehen auftreten und lauthals seine abstrusen Parolen verkünden darf.
Wer keine Ahnung hat, muss dadrch den Eindruck gewinnen, in der Kirche seien alle genauso krass drauf wie der Mann, der als "Paulus" von seinen Oberhirten nicht ins Krankenhaus geschickt wurde, sondern ins Fernsehen. (Was nach meiner Beobachtung wenigstens zum Teil tatsächlich zutrifft ... in der Kirche gelten definitiv andere Gesetze als im Rest der Republik. Und z.T. geht es dort paradoxerweise auch manchmal unchristlicher zu als im Rest der Republik.)
Das kann aber weder im Sinne der Kirche sein noch im Sinne der meisten anderen Deutschen.
Bloß, andererseits heult die Kirche dann wieder rum, dass ihr die Gläubigen weglaufen.
Ich frage mich: Ist das nun Schizophrenie oder Arroganz?