Ich wollte sterben, mein Bruder nicht

Für alle, die ihre Lebensprobleme und Schickale mit anderen teilen möchten

Moderatoren: Ludwig A. Minelli, Mediator

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InExtremo
Beiträge: 4
Registriert: Donnerstag 10. Juni 2021, 10:21

Ich wollte sterben, mein Bruder nicht

Beitrag von InExtremo »

Hallo alle,

Ich (weiblich, 33) bin seit 12 Jahren unregelmäßig in diesem Forum mehr oder weniger aktiv und so lange auch schon mehr oder weniger suizidgefährdet, oft umgezogen und immer wieder neu angefangen, etwas besser zu mir gefunden und den inneren Dämon und die Abneigung gegen die Welt und ihre oberflächlichen Werte halbwegs unter Kontrolle gebracht, aber nicht wirklich das erreicht, was fast alle in meinem Alter inzwischen so an Familie und Zielen erreicht haben, nur überleben.
Mein Bruder hingegen ist beständig seit 23 Jahren in der gleichen Beziehung am gleichen Heimatort geblieben mit 11 jährigem Sohn und der Einstellung, es geht immer weiter und niemals aufgeben. Dann ging er im Januar zur Arbeit und fiel tot um, mit 39 Jahren.
Alles an Trauerbewältigung kann ich in Therapie und im Umfeld besprechen, nur nicht den Punkt, dass ich ein absolut schlechtes Gewissen habe, dass es mich nicht erwischt hat statt ihn (ich würde mich für Gott halten, wenn ich darüber richten würde, wer wann geht) aber kann es jemand nachvollziehen? Er war immer meine Sicherheit, dass er auf unsere Mutter aufpasst, wenn ich zeitig sterbe, jetzt MUSS ich leben, weil sie sich nach meinem Verlust auch das Leben nehmen würde, wir reden da recht offen drüber.

Wollte es nur loswerden. Alles Gute für euch, in welche Richtung auch immer.
Gunner
Beiträge: 22
Registriert: Sonntag 8. Februar 2015, 19:21

Re: Ich wollte sterben, mein Bruder nicht

Beitrag von Gunner »

Vorneweg erst einmal mein herzliches beileid an dich. Auch wenn es von einem fremden kommt, ist es doch ehrlich gemeint und nicht dieses typische Gesellschaftsding. Eines der vielen Dinge, die ich an unserer Gesellschaft hasse.

Ich persönlich kann deine Gedanken absolut nachvollziehen. Es gibt einige liebenswerte Menschen in meiner Familie, die zu früh verstorben sind und für die ich gerne "eingesprungen" wäre. Nicht weil ich mein Leben hasse, sondern weil sie es nicht verdient haben. Sie liebten ihr Leben.

Trotz allem ist es stark von dir, für deine Mutter weiter zu machen. Auch wenn es ein MUSS für dich ist. Ich hätte dafür sicher nicht die Kraft.

Danke, auch ich wünsche dir alles Gute und viel Kraft.
InExtremo
Beiträge: 4
Registriert: Donnerstag 10. Juni 2021, 10:21

Re: Ich wollte sterben, mein Bruder nicht

Beitrag von InExtremo »

Hallo Gunner,

Vielen Dank für diese liebe Antwort. Das macht mich gleichzeitig wieder etwas traurig, denn so viel Empathie in gewählten Worten hat kaum jemand in meinem grossen Umfeld aufgebracht und genau Menschen wie du (wir) ertragen diese Welt selbst nicht gut...
Verstanden zu werden hilft schon sehr.

Herzliche Grüße
Hurlinger
Beiträge: 412
Registriert: Donnerstag 19. Oktober 2017, 19:41

Re: Ich wollte sterben, mein Bruder nicht

Beitrag von Hurlinger »

Hallo. Zunächst möchte ich Dir mitteilen, dass Du genau mit dem Problem nicht alleine bist. Das ist für Dich wahrscheinlich ein schwacher Trost.
Ich habe mittlerweile einen Bruder und vier gute Freunde, die alle durch Krankheiten verstorben sind, verloren.
Und genau der Gedanke daran, dass die alle noch gerne gelebt hätten und ich ihnen gerne mein Leben abgegeben hätte, quält mich immer wieder.
Ich finde, dass sie alle sehr tapfer und mutig ihren Weg gegangen sind. Tapferer und mutiger, als ich es jemals sein werde.
Ich glaube an kein Jenseits, aber manchmal bitte ich sie, mich einfach auch abzuholen. Da das nach so langer Zeit immer noch nicht passsiert ist glaube ich erst recht nicht an irgendeine Kommunikation ins Jenseits. Sie würden mir, wenn sie die Möglichkeit hätten und meine Gedanken kennen würden, sicherlich den Wunsch erfüllen.
Aber dass Du dich jetzt nach dem Tod Deines Bruders für Deine Mutter verantwortlich fühlst, und sie dem Ganzen auch noch Nachdruck verleiht, dass, wenn mit Dir etwas wäre, sie sich das Leben nehmen würde ist in meinen Augen ganz gehöriger Druck auf Dein selbstbestimmtes Leben.
Ich finde es auch nicht gerade fair Dir das so zu sagen. Das hätte sie Dir besser nie gesagt.
Somit bist du ja fast verpflichtet weiter zu machen, egal wie es Dir geht.
Egal wie er aussieht, wünsche ich Dir einen Guten Weg
Gruß
Hurlinger
InExtremo
Beiträge: 4
Registriert: Donnerstag 10. Juni 2021, 10:21

Re: Ich wollte sterben, mein Bruder nicht

Beitrag von InExtremo »

Hallo Hurlinger (habe mich vorher schon gefragt, was der Name zu bedeuten hat), ach sch..... was du auch durch hast, nein, ich glaube nicht an einen Einfluss, die verkackte Zeit die wir noch haben müssen wir wohl selbst durchstehen.. Kommunikation ins Jenseits hatte ich, aber ohne eigenes Ende. Tapfer und mutig muss dein Dasein ja auch irgendwie sein.

Viele Grüße erst erstmal, vielleicht an einem anderen Punkt mehr Austausch..
Scotti
Beiträge: 913
Registriert: Donnerstag 3. Juni 2010, 10:34

Re: Ich wollte sterben, mein Bruder nicht

Beitrag von Scotti »

Liebe InExtremo,

es tut mir sehr leid zu lesen, was deiner Familie und dir passiert ist. So ein früher Tod ist immer schrecklich, vor allem so unerwartet.
Ich wünsche euch an erster Stelle viel Kraft, mit dem Verlust leben zu können, evtl. auch wieder nach vorne schauen zu können und auch wieder
schöne Zeiten zu erleben, auch wenn sie evtl. jetzt noch fern zu sein scheinen.

Ich bin mir sicher, dein Bruder passt von oben jetzt auf euch auf und ist euch näher, als ihr vielleicht glauben könnt.

Es ist gut, dass deine Mutter und du so einen offenen, ehrlichen Austausch über das Thema habt, das ist extrem viel wert, so wisst ihr beide genau, wo ihr bei euch dran seid.
Das du jetzt nicht mehr gehen kannst/magst, kann ich absolut nachvollziehen, auch wenn ich an dem Punkt evtl. denken würde, dass Zeit diese Ansicht etwas ändert.
Ich habe gestern einen interessanten Artikel gelesen von Robert Betz, der sich mit den "Wünschen/Gedanken" von Menschen im Endstadium befasst hat und einer dieser Wünsche war: "Dass ich es mehr mir recht gemacht hätte und nicht immer auf die Wünsche und Erwartungen anderer Menschen geachtet hätte. Ich wünschte, ich hätte den Mut gehabt, mein Leben nach meinen Vorstellungen zu leben und nicht nach den Vorstellungen der anderen!"
Für mich ist dies ein wunderbares Zeichen: Egal, was andere von uns erwarten, sich wünschen und verlangen... am Ende zählt doch nur, dass WIR selber mit uns im Reinen sind, dass WIR unser Leben so gelebt haben, wie es für uns gut war und vor allem, dass am Ende nur der Mensch selber zählt und nicht das, was sich andere von uns gewünscht hätten.

Viele Jahre habe ich den großen Fehler gemacht und habe immer versucht so zu sein, wie andere Menschen (Familie/Freunde/Bekannte) mich gern gehabt hätten, war unsicher, wenig selbstbewusst und vor allem habe ich meine Wünsche und Bedürfnisse immer hinten angestellt.
Seit einer Therapie 2019 habe ich aber gemerkt, dass es völlig egal ist, was andere von mir denken, solange ich dabei nicht auch glücklich bin und glaube mir, es tut gut, wenn man mehr auf sich selber achtet, hört und sich eigene Wünsche erfüllt, bzw. freier lebt, ohne auf die Gedanken der anderen Menschen zu achten und sie zu seinen eigenen Vorstellungen und Erwartungen machen zu wollen.
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