Die (banale?) Welt ertragen?

Für alle, die ihre Lebensprobleme und Schickale mit anderen teilen möchten

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FLCL
Beiträge: 16
Registriert: Donnerstag 20. Januar 2011, 17:48

Die (banale?) Welt ertragen?

Beitrag von FLCL »

Gut Abend zusammen,

da ich mit ADHS gesegnet bin befördere ich mich dadurch irgendwie immer in Teufels Küche. Es kommt zwar noch Borderline, Depressionen und Hochsensitivität hin zu aber ausschlaggebend war heute das ADHS.

Ich bin derzeit bei einer wirklich tollen Ergotherapeutin in Behandlung, habe eine Betreuerin, die mich wöchentlich aufsucht und Anfang nächster Woche auch einen Termin bei einem neuen Therapeut. Auch von
meinen Tabletten bin ich gut eingestellt. Es handelt sich aber nicht um Ritalin, das vertrage ich nicht, sondern andere Tabletten.
Kurz gesagt: Ich bin objektiv nicht schlecht aufgehoben.

Jedoch ist eine meiner größten Bremsen ist das Gefühl für Ungerechtigkeit. So kam es heute (mal wieder) fast zu einer Eskalation als ein Autofahrer partout sein vermeintliches Recht des Stärkeren durchsetzte und die Verkehrsregeln gegenüber meiner am Steuer sitzenden Freundin ignoriert.
Ich will das nicht weiter ausführen, es kann auch irgendeine andere Gelegenheit gewesen sein. Fakt ist, das lies mich (wie vieles) nichtmehr los. Ich war innerlich auf 180 und zitterte.
Wir wollten Essen gehen und im Restaurant angekommen bestellte ich mir erstmal etwas Alkohol zum runterkommen, brachte aber nur wenig.
Minuten später saß ich dann auf der Toilette und heulte. Kam dann verspätet nach oben und bekam von meiner Freundin noch einen Rüffel, denn mittlerweile kam das Essen und es war fast eine halbe Stunde vergangen.
Für mich ist die Außenwelt ein Riesenproblem weshalb ich meistens zuhause bin. Ich ertrage es nicht alles durch ein Vergrößerungsglas sehen zu müssen und volles Rohr ins Gesicht zu bekommen, wie die Menschen miteinander umgehen. Das weiss meine Freundin auch (wir wohnen zusammen) aber natürlich möchte sie mit mir auch mal was mit mir unternehmen. Was ich zwischendurch auch will aber es muss halt ruhig sein.
Und da wir leider (noch) in einer Großstadt wohnen ist der Verkehr auch dementsprechend und bis wir dann am entsprechenden Ziel sind, kann es sein, dass bis dahin mein Akku fast schon leer ist weil die Fahr für mich so anstrengend war.

Nun bemerke ich aber dass diese "Gerechtigkeits-Explosionen" immer heftiger werden und es gefühlt nicht mehr weit ist, bis ich irgendwann fürchtlich aufs Maul bekomme oder selbst jemand dementsprechend bearbeite.
Das möchte ich ja eigentlich gar nicht aber ich komme in diesen Momenten nicht aus dieser Situation raus und bin mir selbst ausgeliefert. Ich weiss ja auch, dass es dann oftmals wieder so endet wie vorhin auf dem Klo. Ich will doch diese unzulässiges Wort Situationen nichtmal erleben!!!!!!!!!!!
Ich für mich, sehe halt durch mein (subjektives) Vergrößerungsglas, dass alles immer extremer wird und ich will mir auch nicht dauernd alles gefallen lassen nur weil viele denken "Frechheit siegt".
Aber ich kann auch nicht mehr. Ich halte es immer weniger aus. Nach solchen Situationen bin ich immer leerer, kaputter und emotional angegriffener. Ja, es frisst mich auf.
Ich fühle mich so immer fremder auf auf einem Planeten, den ich nicht verstehe. Und so auch innerlich einsam. Ich verstehe die Menschen immer weniger und hasse sie immer mehr.
Leider tritt sowas sehr gerne ein, wenn es gerade Anfing mir besser zu gehen. Als ob ich sowas anziehen würde.
Dann schleiche ich mich wieder ins Forum und durchsehe die Methoden weil es immer schwieriger wird das auszuhalten und ich parallel es auch nicht einsehe immer mehr oder andere Tabletten zu mir zu nehmen. Mir ist nicht geholfen wenn ich mich für andere chemisch verändere, zumal ich genug Tabletten mit den Ärzten durchhabe. Irgendwann reichts!
So wünsch ich mir doch, es zu schaffen, die Reissleine zu ziehen oder in ein Koma zu fallen. Hauptsache es is ruhe im Kopf. Mir ist schlecht von mir selbst.

Da ich aber von meiner Erotherapeutin offiziell den Befehl bekommen habe, ihr zu schreiben wenns mir unzulässiges Wort geht, hab ich das vorhen getan. Nur meine Gefühle sind immer noch da und verglühen vor sich hin.
Abendstern
Beiträge: 621
Registriert: Montag 28. September 2015, 08:03

Re: Die (banale?) Welt ertragen?

Beitrag von Abendstern »

Hallo, guten Abend FLCL!

Man könnte auch fast schon sagen "Gute Nacht"! ;-)

Im doppeldeutigsten Sinne des Wortes...

Du sagst, ausschlaggebend für Dein Erlebnis heute sei Dein ADHS gewesen. Also ich kann Dich beruhigen: Bei mir ist nie ADHS festgestellt worden - und dennoch kann ich 1:1 nachfühlen, was heute in Dir vorgegangen ist! Aber hallo!! Vielleicht bin ich aufgrund einer solchen Situation noch nicht eine halbe Stunde weinend auf einer Restaurant-Toilette gesessen - aber alles andere kenne ich rauf und runter. Wirklich jedes einzelne Detail.
Jedoch ist eine meiner größten Bremsen ist das Gefühl für Ungerechtigkeit. ... Fakt ist, das lies mich (wie vieles) nichtmehr los. Ich war innerlich auf 180 und zitterte. ... Für mich ist die Außenwelt ein Riesenproblem weshalb ich meistens zuhause bin. Ich ertrage es nicht alles durch ein Vergrößerungsglas sehen zu müssen und volles Rohr ins Gesicht zu bekommen, wie die Menschen miteinander umgehen. ... Aber ich kann auch nicht mehr. Ich halte es immer weniger aus. Nach solchen Situationen bin ich immer leerer, kaputter und emotional angegriffener. Ja, es frisst mich auf. Ich fühle mich so immer fremder auf auf einem Planeten, den ich nicht verstehe. Und so auch innerlich einsam. Ich verstehe die Menschen immer weniger und hasse sie immer mehr.
Wow, als hättest Du mir direkt aus der Seele geschrieben.

In der Tat wünschte ich ebenfalls, ich könnte eine gelassenere Façon bewahren, wenn mir oder anderen Ungerechtigkeit widerfährt - aber was wäre die Welt andererseits ohne Menschen, die ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl ihr eigen nennen? Muß man denn nicht vielmehr davon ausgehen, daß eher die Menschen eine pathologische Störung aufweisen, die sich gegen jede soziale Regel auf Teufel komm raus durchsetzen müssen? Die Psychopathie-Forschung legt dies zumindest nahe. In den Gehirnen solcher Menschen sind wohl einige Regionen des empathischen Empfindens nicht aktiv. Und mag sein, daß die Gehirne Hochsensibler wiederum aktiver als der Durchschnitt auf derlei Ungerechtigkeiten reagieren. Aber nun denn, ohne eine Jeanne d'Arc hätte es keinen französischen Freiheitskampf gegeben. Vielleicht muß es im evolutionsbiologischen Sinne Menschen geben, die für sich und "ihr Volk" bei Ungerechtigkeiten so stark auf die Palme gehen, daß sie dadurch Kräfte entfalten, ohne die ihnen als friedliebender und sozialer Mensch ansonsten gar keine Verteidigung gegenüber dem Feind möglich wäre. Wären alle solchen Situationen gegenüber emotional gleichgültig eingestellt, würde es wohl nirgends auf der Welt mutige Menschen geben, die sich allem Widerstand zum Trotz diktatorischen Regimen gegenüber auflehnen und ihr Volk in die Freiheit führen. Insofern kann ich mich sogar herrlich darüber aufregen, wenn andere zwar an sich nette Menschen sind, aber sich gegenüber Unrecht und Ungerechtigkeiten gleichgültig verhalten. Fühle mich dann immer an die Eloi aus H.G. Wells "Die Zeitmaschine" erinnert.

Was also ist so falsch daran, wenn man sich nicht mit unhaltbaren Zuständen anfreunden oder arrangieren will? Eines weiß ich jedenfalls sicher: Daß ich bis ans Ende meiner Tage für Gerechtigkeit kämpfen werde und mich ebenso über Ungerechtigkeit aufregen werde. Vielleicht "lohnt" es sich nicht. Und ja, andere leben mit Ignoranz und Gleichgültigkeit sicherlich glücklicher. Aber was soll's, ich habe erkannt, daß das mein innerer Motor ist und den werde ich garantiert nicht unterdrücken, nur weil andere auf diesem Bein lahm sind. Vielleicht muß man einfach auch akzeptieren, wie man ist. Und noch wichtiger: Wer man ist. Ohne sich zu sehr daran zu orientieren, was andere von einem erwarten. Ist der Druck von außen weg, nimmt der Druck innen ja oft in gleichem Maße ab.
Mir ist nicht geholfen wenn ich mich für andere chemisch verändere, zumal ich genug Tabletten mit den Ärzten durchhabe. Irgendwann reichts!
Genau.

Was Dir und mir bestimmt gut täte, wäre eine Aktivisten-Gruppe. :D In der man mal ganz offiziell seinen Unmut über die Ungerechtigkeit auf dieser Welt kundtun könnte. Wie oben bereits erwähnt, sind ja schon manche auf diese Weise unverhofft zum Anführer der Unterdrückten geworden. ;-)

Was mir jedenfalls stets gut tut, ist, wenn ich merke, da sind Menschen, denen geht es genau so. Hey, und plötzlich fühle ich mich wieder aufgeräumt und aufgehoben in dieser Welt. Nur leider sind diese Menschen wirklich rar zu finden... :? Und so lebe auch ich nur noch sehr zurückgezogen. Für mich selbst wäre das mittlerweile auch ok so, wenn nicht die äußeren Umstände es verlangten, daß man sich wieder ins Getümmel stürzen muß. :(

Jedenfalls bin ich in den letzten schlimmen Jahren ja eine Menge "Freunde" losgeworden, die, wie ich andernorts hier schon schrieb, meinten, trotz all meines steten Bemühens ständig an mir herummäkeln zu müssen. Und sei es, daß ich nicht schnell genug wieder auf die Beine komme. Wenn ich wenigstens eines in dieser furchtbaren Zeit gelernt habe, ist es, daß es Menschen gibt, die mich auch im völlig geschredderten Zustand so akzeptiert haben, wie es die Situation hergab. Selbst am absoluten Tiefstpunkt meines Lebens, an dem ich vor lauter Verzweiflung wirklich manchmal keine Schimpfworte mehr finden konnte, die schlimm genug gewesen wären, um das auszudrücken, was ich empfinde. Hier im Forum wären diese jedenfalls seitenweise durch "unzulässiges Wort" ersetzt worden. :wink:

Die meisten anderen glaubten, man müsse mich nur in eine Therapie schicken und dann wird es schon wieder. Letzten Endes hat mir aber allein nur die Akzeptanz geholfen. Denn diese hat signalisiert: Alles in Ordnung mit Dir! Nicht Du bist verkehrt, sondern das, was Dir passiert ist, ist verkehrt. Und im Endeffekt sehe ich da eine Parallele zu dem, was Du erzählst. Natürlich wäre es wünschenswert, wenn man Ungerechtigkeiten und Integritätsverweigerern gegenüber etwas gelassener reagieren könnte, aber die Reaktion per se ist alles andere als verkehrt. Vielleicht versuchst Du, sie zu umarmen, sie als etwas Positives wahrzunehmen, auch wenn sie Dir anstrengende Momente beschert. Aber noch anstrengender ist es, sie als etwas Falsches wahrzunehmen. Und im Idealfall läßt sich dieser Kampf gegen diesen inneren Motor in eine positive Kraft nach außen verwandelt - nämlich in einen Motor, der Dich tatsächlich antreibt, nach vorne! Anstatt Dich implodieren zu lassen. Wir erinnern uns: Auch der klassische Automotor funktioniert mit Explosionen, die in eine Vorwärts-Bewegung umgewandelt werden. Im übertragenen Sinne könnte das zum Beispiel der Einsatz für eine Sache sein, an die Du glaubst oder der Einsatz für Schwächere, die nicht mit einem solch grandiosen Motor gesegnet sind. :) Ich versuche jedenfalls, diesen Weg einzuschlagen. Ob es gelingt, weiß ich nicht. Aber es ist immerhin ein Ziel vor Augen.

In diesem Sinne erst einmal alles Liebe und eine gute Nacht!

Abendstern
Erloesung
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Registriert: Montag 26. Januar 2009, 00:00

Re: Die (banale?) Welt ertragen?

Beitrag von Erloesung »

Genau betrachtet ist ADS/ADHS ein uralter Instinkt, der noch im Erbgut verankert, aber nicht mehr gebraucht wird.
Eine mögliche, plausible Erklärung dieses Symptomes, so Forscher zur "Affektregulierung" des Verhaltens meinen, dass es überlebenswichtig war, ständig wachsam auf seine Umgebung zu achten, nicht auf einen einzigen Fokus konzentriert zu sein.

Wie alle Lebewesen, so hat auch der Mensch einen großen Teil des Tages mit Nahrungssuche verbracht und er hatte "Fressfeinde" - er stand nicht oben in der Nahrungskette und eigentlich sind wir es bis heute nicht.

Die Umgebung ständig sondieren, überall und jederzeit bereit zu sein, die Konzentration von einer Sache abzulegen, um sich anderem zuwenden zu können. Zum Beispiel eben aufzupassen, dass sich kein hungriges Raubtier anschleicht und fluchtbereit zu sein, ist eigentlich kein Defizit.

Aber in unserer nun recht sicheren urbanen Umgebung ist eben dieser Instinkt nicht mehr notwendig, jedoch ist er immer wieder bei Menschen stärker ausgeprägt, häufiger als man glauben mag.
Mitauslösend kann es aber auch sein, dass aufgrund von unsicheren Ereignissen im jungen Leben, dieser Instinkt sich in den Vordergrund schiebt und dann ist das Verhalten auffälliger als bei anderen.
Riesenschnauzer
Beiträge: 151
Registriert: Mittwoch 13. Dezember 2017, 17:35

Re: Die (banale?) Welt ertragen?

Beitrag von Riesenschnauzer »

Interessante Erklärung. Oder man schaue sich mal Katzen an, sobald sie das Haus verlassen...sieht auch ein bisschen nach ADHS aus oft :)
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