Thanatos hat geschrieben:
Ich denke mal, dass das „Ja zum Leben in fast jeder Situation“ evolutionär bedingt ist. Denn aus derjenigen Linie, wo sich die Leute beim kleinsten Verdruss gleich umbrachten, können wir schlecht abstammen.
Stimmt. Die natürliche Selektion begünstigt einen starken "Bias" für das Leben und gegen die Nichtexistenz. Schon daraus kann man ableiten, dass die übliche Einschätzung von Leben und Tod auf einer verzerrten Wahrnehmung beruht.
Nun kann ein Mensch bis zu einem gewissen Grad durch Reflektion an seiner biologischen Programmierung arbeiten. So wie man Höhenangst und Rassismus, die beide evolutionäre Hintergründe haben, überwinden kann, kann man auch die instinktive Abscheu vor dem Tod überwinden.
Schon das Wort "Tod" ist ja im Grunde eine Dramatisierung, die lauter falsche Assoziationen weckt. Sagt man stattdessen "Nichtexistenz" oder "dauerhafte Bewusstlosigkeit", dann erscheint die Sache gleich in einem anderen Licht.
Verstärkt wurde die allgemein übliche und somit „normale“ Konversionsontologie (alles Seiende ist gut, alles Gute ist seiend) durch Kirchen und lebensbejahende Ideologien im Allgemeinen.
Gerade bei den monotheistischen Religionen spielt natürlich der ideologische Optimismus eine Rolle. Wer sich einbildet, dass unser Leben von einem großen Wohltäter aufs Beste eingerichtet wurde, der muss die freiwillige Beendigung des Lebens als die extremste Form der Ketzerei empfinden. Das ist ein bisschen wie mit des Kaisers neuen Kleidern. Schopenhauer hat das hübsch ausgedrückt, auch wenn das Zitat den meisten bekannt sein dürfte:
"Der außerordentlich lebhafte und doch weder durch die Bibel, noch durch triftige Gründe unterstützte Eifer der Geistlichkeit monotheistischer Religionen gegen den Selbst'mord scheint auf einem verhehlten Grunde zu beruhen. Sollte es nicht dieser sein, dass das freiwillige Aufgeben des Lebens ein schlechtes Kompliment ist für Den, welcher gesagt hat: παντα καλα λιαν? — So wäre es denn abermals der obligate Optimismus dieser Religionen, welcher die Selbsttötung anklagt, um nicht von ihr eingeklagt zu werden. "
Ich hoffe, der Mediator ändert nicht das Wort "Selbstm*rd". Ist immerhin ein Originalzitat
Übrigens gab es durchaus Ideologien und Bewegungen – ich denke da an die Stoiker -, die es als „geistig gesund“ betrachteten, sein Leben durch eigene Hand zu beenden, wenn dies die Umstände (Alter und/oder Krankheit und/oder Armut) erforderten. Es galt somit als „nicht normal“, ja als unanständig und verwerflich, sein Leben unter allen Umständen erhalten zu wollen.
„Normalität“ ist also Ansichtssache und kulturbedingt... „psychische Gesundheit“ vermutlich auch...
Die alten Griechen und Römer haben ja auch nicht an einen allmächtigen und all-netten Gott geglaubt und hatten insofern keine metaphysisch-ideologischen Probleme mit dem Freitod. Sie lebten in dem Bewusstsein, dass das Leben auf dieser Welt, höflich ausgedrückt, eine ziemlich durchwachsene Angelegenheit ist. Ich zitiere mal ein bisschen aus der griechischen Kulturgeschichte von Jacob Burckhardt:
"Die Klage über das Elend der Menschen, wie sie sich aufdringlich und überall bei den Griechen hören läßt, ist ohne einige Wiederholungen nicht wohl zur Darstellung zu bringen; ein und derselbe Gedanke wird bald einfacher, bald reicher, mit allerlei Beziehungen und Vorstellungen gemischt, ausgesprochen. Man mag beginnen mit der Wahrnehmung von der Negativität des Glückes und der Positivität des Schmerzes, welche sich schon im IV. Jahrhundert ziemlich deutlich eingestellt hat: »Das Erfreuende, oberflächlich wie es ist, hat Flügel und immer einige Zumischung von Leiden, der Schmerz dagegen kommt ungemischt und ganz und als ein dauernder.« Oder es wird vom Glück geradezu abgesehen: »Ohne Jammer«, sagt Sophokles, »ist niemand; wer dessen am wenigsten hat, ist der Glückliche«. Welt und Leben gelten nicht nur für gering (εὐτελής), sondern für schlimm und böse.
(...)
Der Sophist Antiphon verbittet sich, daß vom Leben als von etwas Großem und Erhabenem Worte gemacht würden; alles sei klein, schwach, kurzwährend und dafür mit großem Jammer gemischt. Von Aristoteles, der doch das Leben an sich als wünschenswert erklärt hatte, besitzt man die schauerlichen Worte: »Was ist der Mensch? ein rechtes Merkzeichen der Schwäche, eine Beute des Augenblickes, ein Spielzeug des Zufalls, ein Bild des Umschlagens (der Schicksale), bald mehr dem Neid, bald mehr Unglücksfällen anheimgegeben; der Rest ist Schleim und Galle (φλέγμα καὶ χολή).« – Die Tiere sind glücklicher und im Grunde klüger als die Menschen; der so hart geplagte Esel z.B. fügt wenigstens sich selber kein Übel zu – so Menander, und ganz ähnlich Philemon: die Tiere tragen nur, was die Natur ihnen auferlegt und brauchen weder Entscheide noch Entschlüsse, während wir Menschen in unserm unleidlichen Leben Gesetze erfunden haben und den Meinungen Sklavendienst leisten, und den Vorfahren und den Nachkommen; um unglücklich zu sein, erfinden wir beständig neuen Anlaß. – Derselbe Dichter anderswo: Sturm gibt es nicht allein zur See, sondern auch wenn man in einer Straßenhalle wandelt, und selbst daheim im Hause; Seefahrer bekommen nach dem Sturm einen rettenden Wind oder treffen einen Hafen; ich aber leide Sturm nicht nur einen Tag, sondern das Leben entlang, und der Schmerz hat beständig das Übergewicht. – Schon alt war die Lehre vom Neid der Götter gegen das menschliche Talent, und auch später meldet sich (bei Sotades) die Klage über das besondere Unglück und schlimme Ende der Höherbegabten, auch über die eigentümliche Tücke des Schicksals, wirklichen und großen Vorteilen große Schäden beizugeben, der Schluß aber lautet: »ein einziger schmerzloser Tag ist schon ein großer Gewinn, denn was sind wir überhaupt und aus welchem Zeuge gemacht? besinne dich doch auf das, was Leben ist, denke, woraus du entstanden und wer du bist, und was du wiederum werden wirst.« "
http://www.zeno.org/Geschichte/M/Burckh ... hen+Lebens
Das ganze Kapitel ist für Leute wie uns ein gefundenes Fressen
@Gast74:
Ich würde sogar soweit gehen zu behaupten,dass in unserem kaputten und kranken System der Wunsch nach Freitod eine ganz natürliche und damit gesunde Reaktion unseres Geistes ist.
Sind wir nicht von vornherein so "programmiert" worden,bei jeglicher Gefahr die Flucht zu ergreifen? Ein leben voller Leid ( ob nun psychisch oder somatisch) birgt in jedem Fall und
zweifelsohne Gefahren unbeschreiblichen Ausmasses.Wir kämpfen bis zu einem gewissen Grad dagegen an.Bis wir irgendwann ganz klar vor Augen haben: Flucht und zwar sofort!
Der Fluchtinstinkt zielt in der Natur aber immer auf die Vermeidung des Todes und nicht auf die Vermeidung von Leid. Denn in der Evolution geht es nur um die Weitergabe von Genen und nicht um das Wohlergehen der Gen-Träger.