Depressed realism, Erklärung bitte

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chris84

Re: Depressed realism, Erklärung bitte

Beitrag von chris84 »

Thorsten3210 hat geschrieben:
Thanatos hat geschrieben:Nur, muss man an den üblichen Albernheiten teilnehmen?
Muss man absolut nicht. Und ich kann da aus eigener Erfahrung berichten. Als ich damals nach dem Studium meinen ersten Job antrat und allmählich gut Kohle verdiente, war ich da so richtig zufrieden ? Klare Antwort: Nein, denn mit zunehmenden Verdienst steigen natürlich auch die Ansprüche. Und mit ihnen die Probleme, die man sonst nicht hätte. Aus der Mietwohnung muss unbedingt ein eigenes Haus werden. 2 Mal im Jahr in Urlaub ist Pflicht, größeres Auto sowieso, und und....Jetzt wo nix mehr da ist (einzige Luxus ein 13 Jahre alter Kleinwagen) wird das Leben übersichtlicher, die Wünsche deutlich kleiner. Aber auch alles irgendwie enspannter. Ich finde, Konsumverzicht wirkt Alltagszwängen entgegen und führt langfristig zu einem selbstbestimmteren, erfüllteren Leben. Allerdings dass man hier im Suizidforum gelandet ist hat noch wieder andere Ursachen, die mit Kohle nix zu tun haben, zumindest bei mir.
Das erinnert mich so ein bisschen an die Geschichte von meinem ehemaligen besten Freund. Er hatte zunächst einen kleineren Job mit einer 30h-Woche also mit etwas Freizeit noch. Er hatte gute Kollegen, übersichtliche Aufgaben und nicht soviel Verantwortung und Stress wie seine Kollegen, die einen höheren Berufsstand hatten. Und sein Gehalt war auch nicht so schlecht, also er konnte gut von leben.
Aber irgendwann war ihm das nicht genug. Er wollte dann auch beruflich aufsteigen obwohl ich ihm vor den Konsequenzen (40h-Woche, keine Freizeit mehr, mehr Verantwortung, mehr Stress usw.) gewarnt hatte. Aber er wollte nicht hören. Schon nach wenigen Tagen in seinem neuen Berufsstatus habe ich gemerkt dass ihn alles nur noch nervt. Anfangs hatte er aber versucht mir das noch schön zu reden. Aber irgendwann verschlechterte sich bei ihm alles, auch sein Verhältnis zu den ehemals guten Kollegen. Irgendwann konnte er psychisch nicht mehr und musste den Job kündigen. Und das alles nur weil er etwas mehr Geld wollte. Und ich dachte so, man wärst du doch einfach in deinem alten Berufsstand geblieben. Dann hätte er diese Probleme und den Jobverlust nie gehabt.
Was nicht heißen soll, dass ich da Schadenfreude empfunden habe. Aber so einen kleinen Gedanken wie, „hach ich hatte mal wieder Recht“, konnte ich mir dann doch nicht verkneifen.
Thanatos
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Re: Depressed realism, Erklärung bitte

Beitrag von Thanatos »

Gedanken zur Lösung des Problems des „Depressive Realism“:
Da es zwar sehr erhellend sein kann, im Zustand des „depressiven Realismus“ zu leben, aber nicht gerade angenehm, schlägt Colin Feltham gegen Ende seines Buches Folgendes vor: „Perhaps the best we can do is to live, as much as possible, outside the domains of knowing and insisting. Humility, if it's not just another delusion, seems wise.“
Ich persönlich stelle mir das sehr schwierig vor; denn wer einmal wirklich erkannt hat, dass „Leben bedeutet: […] lügen und sich selbst belügen.“ (Emil Cioran), wird diese Erkenntnis kaum dauerhaft verdrängen können.
Weiter mit Feltham: „We can keep ourselves well in the dark by choosing the path of functional illusions. We can avoid the most troublesome taboos; and we can profess to believe in things that aren't true. Or we can instead choose the path toward „truth“, unblinking and undeceived. If this is your choice, tread carefully. The path is poorly worn and beset with flickering illusions. The terrain is difficult. And whatever path you choose, you may be assured that it leads into the same deep, dark destination. It's a dizzy range of choices before us in the interim. And even if choice is an illusion, choose we must. […] my belief is that the taboo against openly discussing the horrors of life is part of the problem [nämlich das Problem, das „Depression“ genannt wird, T.]. Were we to expose our dark thoughts to the light of day, a different kind of society might be within our grasp. […] Having negative views about life should not be a dirty secret. Pessimism is not a pathological state to be treated clinically.“
Man kann es aber auch mit Albert Camus halten, für den das Dasein als „absurd“ galt. Frei nach Thanatos meinte Camus: „Das Dasein ist zwar absurd, aber jetzt erst recht!“ Soll heißen: Anstatt zu resignieren, kann man seinen Lebenssinn darin sehen, gegen eben diese Absurdität des Daseins zu kämpfen....
Dissolved_Alice
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Re: Depressed realism, Erklärung bitte

Beitrag von Dissolved_Alice »

ahoi thanatos
...gegen die absurdität des daseins kämpfen. ..hm

wie ist das gemeint?
kann mir da grad absolut nix drunter vorstellen...
Thanatos
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Re: Depressed realism, Erklärung bitte

Beitrag von Thanatos »

'n Abend, Alice,
dazu müsste ich zuvor Camus' Philosophie erklären. Das wäre etwas viel. Du kannst ja vielleicht selbst darüber googeln, wenn dir danach ist.
Nehmen wir mal ein konkretes Beispiel: Eine tödliche Seuche ist ausgebrochen. Hunderte von Infizierten. Ein Arzt und ein paar Helfer. Kein wirksames Gegenmittel vorhanden. Im Grunde ist es absurd, wenn der Arzt auch nur einen Finger rührt, weil es ja doch nichts bringt! Trotzdem tut er es. Aus Trotz gegen die Absurdität steht er den Kranken bei, anstatt die Hände in den Schoß zu legen.
Das kann man nun aufs Leben beziehen: Es ist absurd, auch nur einen Finger zu rühren, weil man ja doch irgendwann stirbt – ob gleich oder später ist doch letztendlich egal. Auch hier kann man eine Trotzhaltung einnehmen: „Ich finde mich nicht einfach mit dieser Absurdität ab, sondern lebe! Auch wenn mich der Tod irgendwann doch kriegt, jetzt noch nicht, Alter!“
Peterchen
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Re: Depressed realism, Erklärung bitte

Beitrag von Peterchen »

Kann man so machen, kann man aber auch lassen.
Abendstern
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Re: Depressed realism, Erklärung bitte

Beitrag von Abendstern »

Wuaaah, mich hat gerade wieder ein aktiver Schub von Depressive Realism gepackt!

Was sind denn das alles für bräsige Schafe, die da draußen in der Welt herumlaufen? Ich bin ja selbst leider in einem religiös-esoterischen Trugbild aufgewachsen. Vielleicht bin ich nach der harten Erkenntnis auch gerade deshalb jetzt so resistent und allergisch gegen alle Arten von Gehirnwäsche. Das Problem ist nur, daß ich immer mehr das Gefühl habe, nicht mehr in eine Welt hineinzupassen, die belogen und betrogen werden will. Eine Welt, die sich mit simplen Antworten zufrieden gibt, anstatt der Realität ins Auge zu sehen. Vor allem wird's mir Angst und Bang, daß mir immer mehr klar wird, daß ein Drittes Reich jederzeit wieder möglich ist. Ich will nicht in einer solchen Welt leben. :cry:
Abendstern
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Re: Depressed realism, Erklärung bitte

Beitrag von Abendstern »

Thanatos hat geschrieben:Feltham: „We can keep ourselves well in the dark by choosing the path of functional illusions. We can avoid the most troublesome taboos; and we can profess to believe in things that aren't true. Or we can instead choose the path toward „truth“, unblinking and undeceived. If this is your choice, tread carefully. The path is poorly worn and beset with flickering illusions. The terrain is difficult. And whatever path you choose, you may be assured that it leads into the same deep, dark destination. It's a dizzy range of choices before us in the interim. And even if choice is an illusion, choose we must. […] my belief is that the taboo against openly discussing the horrors of life is part of the problem [nämlich das Problem, das „Depression“ genannt wird, T.]. Were we to expose our dark thoughts to the light of day, a different kind of society might be within our grasp. […] Having negative views about life should not be a dirty secret. Pessimism is not a pathological state to be treated clinically.“
Sehr schön ... Sehr treffend ...
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