Nun, der Ausgang `Tod` steht natürlich jedem Arbeitsfähigen grundsätzlich offen, es sei denn a) ihm fehlen angemessene, für ihn durchführbare Methoden, oder aber b) er ist psychisch dermassen in moralischen Tabus den Suizid betreffend gefangen, dass er durch diese inneren Blockade am Suizid gehindert wird (und diese zweite Bedingung trifft wohl auf die wenigsten zu).
Zum letzten Satz: Da bin ich mir nicht sicher. In unserer Gesellschaft gibt es eine Reihe von Glaubenssätzen, die wir alle sozusagen mit der Muttermilch aufsaugen: Das Leben ist immer etwas wertvolles. Der Tod ein großes Übel. Der Suizid ein pathologischer Unfall und keine normale Handlungsoption.
Auch jemand, der den Suizid nicht gerade verurteilt, ist von diesen Glaubenssätzen geprägt. Und das ist vermutlich der Grund, weshalb so viele Menschen ein Leben fortsetzen, das eigentlich nur Quälerei bedeutet. Sie haben den Suizid als rationale Option einfach nicht "auf dem Schirm". Sie empfinden das Weiterleben als "alternativlos", obwohl viele die Stunden, die sie im Tiefschlaf verbringen, als besten Teil ihres Lebens betrachten.
Natürlich spielt auch die soziale Ebene eine Rolle. Wer sein Leben beendet, muss damit rechnen, Angehörige mit Schuld- und Versagensgefühlen zurückzulassen und ihnen eine Art Familienschande aufzuladen.
Wäre nun der Freitod in unserer Gesellschaft eine vollkommen akzeptierte Option - würde man es nicht als Katastrophe empfinden, dass manche Menschen, die vom Leben nicht profitieren, sich etwas früher schlafen legen - dann wäre die Zahl der Suizide sicherlich wesentlich größer.
Keiner der heutigen SH-Debatten würde für solche Personen überhaupt einen Weg ins Sterben ermöglichen
Ich bin eben sehr progressiv
Meine Utopie sieht in der Tat so aus, dass jeder erwachsene und entscheidungsfähige Mensch - eventuell nach einer Wartefrist - Zugang zu NaP bekommen sollte. Ich sehe überhaupt nicht ein, woher die Gesellschaft das Recht nimmt, Menschen zum Weiterleben zu nötigen. Zur Freiheit gehört auch die Freiwilligkeit des Lebens.
Dass Dignitas nicht so liberal ist, wie ich es mir wünsche, kann ich natürlich verstehen. Die operieren in einer noch sehr konservativen Gesellschaft (was dieses Thema angeht) und dürfen den Bogen nicht überspannen.
und einerseits auch hoffentlich nicht. Selbst wenn ein Staat quasi jedermann die grundsätzliche Möglichkeit geben würde sich ein Barbiturat beschaffen zu dürfen, ohne aber um lebenswertere Lebensumstände bemüht zu sein und die SH-Befürworter solches guthiessen, dann wäre das von extremer Fall moralischer Zweischneidigkeit: denn man würde unter dem Fähnchen der Freiheit und Autonomie den Leuten einen `humanen` Suizid ermöglichen und es wäre zugleich ein idealer Zustand um nichts mehr für Randständige tun zu müssen etc..
Theoretisch könnte man sogar mehr tun, weil es nicht mehr so viele von ihnen gäbe
Aber im Ernst: Ich glaube nicht, dass eine Liberalisierung des Freitods auf einen Abbau von Hilfsangeboten hinauslaufen würde. Vielleicht würden die Hilfsangebote sogar ausgebaut werden, weil man den Menschen, die dann eine Alternative hätten, etwas bieten müsste, und weil man durch die gesteigerte Häufigkeit der Suizide erst merken würde, wie schlecht es einem Großteil der Menschen wirklich geht. In den Niederlanden hat die Sterbehilfe übrigens auch nicht für einen Abbau der Palliativmedizin gesorgt, was ja von vielen befürchtet wurde.
Na ja, die Sentenz von Montaigne klingt mehr schön, als dass es mit der realen Psychologie des Menschen viel gemein hätte.
Ich lebe sehr viel angstfreier, seit ich weiß, dass ich früher oder später die Biege machen werde. Wüsste ich, dass ich noch unbestimmte Zeit weiterleben
muss - dass ich dem Leben ausgeliefert bin - dann hätte ich viel größere Angst. Ich wäre in Sorge, ob mir weiterhin Grundsicherung gezahlt wird, wie lange der Sozialstaat noch hält, was aus mir im Alter wird usw.
Der Mensch will zuerst (mit wenigen Ausnahmen) immer lieber ein lebenswertes Leben als sterben zu müssen
Das ist klar, aber das ist nun mal eine Option, die oft nicht zur Verfügung steht. Die Menschen wollen auch lieber eine glückliche Ehe führen als sich scheiden lassen, aber das ändert doch nichts daran, dass die Scheidung ein wichtiges Recht ist und oft besser als die Alternative.
(darum ist Freiheit hier ein sehr problematisches Wort...es wäre eine Freiheit die in äusserster Unfreiheit noch einen letzten, im Kern nicht gewollten Ausweg ermöglicht und eigentlich nur von moralisch eindeutigem Wert wäre bei Menschen die aus Krankheits- und Altersgründen, also wegen nicht mehr zu ändernden Umständen, nicht mehr leben wollen).
Mein Beispiel mit der Scheidung finde ich sehr gut. Jeder, der geheiratet hat, würde lieber eine glückliche Ehe führen als sich scheiden zu lassen. Aber wenn die Ehe völlig ruiniert ist, dann kann es besser sein, sich scheiden zu lassen als eine alptraumhafte Ehe fortzusetzen. Und es wäre völlig absurd, ein Verbot der Scheidung damit zu begründen, dass eine Wahl zwischen suboptimalen Optionen keine freie Entscheidung ist. Denn selbstverständlich ist sie das. Wenn ich von zwei Übeln das für mich kleinere Übel wählen kann, dann bin ich freier, als wenn mir das größere Übel aufgezwungen wird.
Dass schon immer und jedem Staat Suizid verboten wurde, stimmt mit Sicherheit nicht (es genügt an das antike Griechenland zu denken).
Auch da wurde der Freitod von der Obrigkeit oft abgelehnt. Ich denke da an Hegesias von Kyrene:
https://de.wikipedia.org/wiki/Hegesias
Aber wie kommt es, dass in der Schweiz die SH weit mehr Freiraum hat als z.B. in Deutschland? Ist das noch Folge und nur solche der Nazizeit mit deren sog. Euthanasie-Praxis?
Das weiß ich nicht. Allerdings gibt es viele Länder ohne Euthanasie-Vergangenheit, in denen Suizidhilfe auch verboten ist.