Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

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Pegggy
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Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Pegggy »

es gibt einen Artikel in der Taz.
googelt: "taz positive kultur sterben"
Girlxxx

Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Girlxxx »

O.k., werde weiterhin posten, aber um den Vorwurf hier lediglich meinen Frust abzureagieren zu entschärfen, mich künftig nicht mehr um das scheren was andere antworten, sprich: ob auf Argumente eingegangen wird ist mir künftig s.cheissegal, ob jemand ein doppeltes Account führt: mir s.cheissegal, ob gelogen wird: mir s.cheissegal. Wenn mir all das s.cheissegal ist, werde ich mit niemandem streiten müssen, ergo keinen Frust ablassen können. Q.E.D. Im übrigen: ist doch herrlich wenn alles s.cheissegal ist.

Ich will zu diesem thread-Thema berichten was die Autorin Sarah Perry in ihrem Buch `Every cradle is a grave`(`Jede Wiege ist ein Grab`) schreibt. Werde das etwas später wenn ich Zeit habe tun, aber definitiv `lesenswert` was sie dazu zu sagen hat (da ich ihr Buch anderswo als erbärmlich titulierte).
Girlxxx

Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Girlxxx »

Was verursacht Suizide?
Die Autorin nennt die drei (und wie sie meint empirisch am besten verifizierten vor allem im Buch von Thomas Joiner `Why People die by suicide`) wichtigsten Gründe für Suizide:
1) Das Gefühl anderen eine Last zu sein.
2) Das Fehlen sozialer Zugehörigkeit.
3) Das Know-how bezüglich der Suizidmethode(n).

Explizit ablehnen tut sie folgenden oftmals genannten Grund: Überlastung resp. Überforderung (z.B. der Stress für andere sorgen zu müssen, finanziell und/oder emotionell). Sie meint, gerade das Gegenteil treffe zu: nicht Überlastung sei der Grund sondern eine Last für andere zu sein. (Kritik meinerseits: ist hier nicht das eine oftmals das Implikat des anderen? Wer überlastet ist, leidet oft auch darunter anderen, durch seine Unfähigkeit seine Aufgaben erledigen zu können, eine Bürde zu sein...wie auch umgekehrt derjenige der sich als Last für andere empfindet zugleich doch auch leidet ob seiner Überlastung durch alltägliche Anforderungen die er nicht meistern kann. Das Gefühl anderen eine Bürde zu sein wäre allenfalls sogar spezifischer erfasst durch die Eigenschaft Alter.)

Interessant im Kontext des Dignitas Forums der 3. Punkt den sie erwähnt: Kompetenz hinsichtlich der Fähigkeit eines Betreffenden sich mittels einer gewählten Methode Schaden zufügen zu können. Ihre These: dass viele Suizidenten sich zunächst nur leichten Schaden zufügen, diese dann steigern (dadurch die instinktive Abneigung sich zu schaden langsam überwinden) um dann in der Lage zu sein die tödliche Anwendung durchzuführen (diese These koppelt sie mit dem richtigen Sachverhalt, dass der grösste singuläre `Vorhersager` für Suizide vorhergehende Suizidversuche sind).(Ob hier aber wirklich der behauptete Zusammenhang besteht und in welchem Ausmass, wird offen gelassen)
Auch streicht sie heraus, dass die meisten Suizidenten sehr unflexibel seien in der Wahl der Methode (sie illustriert dies anhand des Beispiels einer beliebten Suizid-Brücke die mit Netzen versehen wurde um solche zu erschweren, in der Folge aber es nicht zu vermehrten Suiziden von einer nahe gelegenen Brücke kam, die ähnliche Voraussetzungen bot). (Frage meinerseits: ist dies nicht ein Indiz dass die Flexibilität eben grösser ist als vermutet, dass die Betroffenen nicht etwas ähnliches suchten sondern auch auf eine ganz andere Methode ausweichen konnten...hier wie anderswo, wird nie genauer untersucht welche Interpretation nun die plausibelste ist).
Ein anderes Beispiel um zu untermauern, dass Suizidenten Methoden-fixiert sind, ist der Rückgang von Suizidraten nach Abschaffung weit verbreiteter Suizidmethoden (Hausgas in England, Autoabgase in Amerika). Allerdings bleiben auch hier offene Fragen: warum die kleinere Suizidrate in den unmittelbaren Jahren danach? Konnte es nicht auch z.T. daran gelegen haben, dass das Wissen um die geringere Letalität Zeit brauchte um sich `rumzusprechen`, oder aber, dass diese Methoden gerade auch von Personen praktiziert wurden die sehr ambivalent waren bezüglich ihrem Sterben überhaupt...auch solche Faktoren wären in einer Studie zu berücksichtigen. Die Autorin erwähnt lediglich den Aspekt der Wissens-Ausbreitung. Höhere Todesraten bei Ärzten, Zahnärzten, Wissenschaftlern erklärt die Autorin mit Punkt 3), also ihrer Kompetenz bezüglich tödlich wirkender Mittel. Generell sieht sie diesen Faktor am wirken: Ärzte haben eine weniger erhöhte Suizidrate als Ärztinnen (verglichen mit dem entsprechenden Geschlecht) was daran läge, dass Frauen generell eine stärkere Neigung zu weichen Methoden hätten. In Indien und China wo Gifte viel einfacher zugänglich sind (Pestizide etc.) stürben mehr Frauen durch Suizid als Männer.( Die Autorin scheint hier also tendenziell die ungleiche Verteilung von Suizid/Suizidversuche bei Männern/Frauen auf die ungleiche Verfügbarkeit von Suizidmethoden hinsichtlich ihrer geschlechtlich unterschiedlichen Bevorzugung zurückzuführen. Auch hier derselbe Einwand: Frauen in China /Indien haben sozial generell einen geringeren Stellenwert etc., bis hin zum erzwungenen Suizid oder gar Mord. Die Autorin isoliert einen Faktor und überträgt diesen unbesehen anderer Umstände und Einflussfaktoren wo es gerade beliebt).

Was verursacht keine Suizide?
(Aufgepasst:) Depression , z.B., bewirkt nur eine sehr geringe Zunahme des Suizidrisikos, meistens bei Männern. Die Autorin fügt an: Es wäre schockierend wenn es gar keinen Effekt gäbe, da Suizid und Suizidgedanken selber diagnostische Faktoren bei der `Major depressive disorder` (klinische Depression) sind. Aber die Behauptung, dass die Nummer 1 Ursache für Suizid unbehandelte Depressionen seien , habe keine Basis in der Realität. Weiter: Es wäre viel akkurater zu sagen, dass ein Mann zu sein die führende Ursache für Suizid sei. Depressionen zeigen sich meistens bei Frauen und jungen Menschen; Suizid, im Kontrast, geschieht meistens bei älteren Personen und Männern. (Meine Kritik: Ich behaupte, dass dies fast jeder Studie die es zum Thema Depression/Suizid gibt widerspricht, wobei klar zu differenzieren wäre zwischen schwerer Depression und solchen Zuständen die eher als Niedergeschlagenheit oder ähnlich zu bezeichnen wären. Die Autorin beruft sich auf eine einzige Studie. Des weiteren scheint sie hier Zweierlei und mehr durcheinanderzubringen: einerseits Faktoren die als Prädiktatoren/Vorhersager dienen können, d.h. die besten Prädiktatoren würden am zuverlässigsten das durchschnittliche Suizidrisiko/Suizidrate einer bestimmten Gruppe vorhersagen können. D.h. hier ginge es um Raten innerhalb klar abgegrenzter Gruppen. Die Autorin aber nimmt als Gegenargumente die Tatsache, dass Ältere sich häufiger umbringen, bzw. die meisten Depressiven Frauen seien. Wenn es darum geht festzustellen inwiefern Depression und Suizidalität korreliert sind, dann ist die totale Suizidzahl irrelevant, es zählt nur die Rate, also wie viele per 100`000 z.B., die Autorin tut aber dies nicht wenn sie schreibt, dass die meisten Suizide bei Älteren Menschen vorkommen, dass diese evtl. nicht diagnostiziert depressiv sind sei nur am Rande angemerkt. Auch der Hinweis dass die meisten Depressiven Frauen seien, diese aber eine geringere Suizidrate als Männer hätten, ist völlig irrelevant. Trotz dem könnten zumindest theoretisch gerade depressive Frauen sich viel häufiger umbringen als depressive Männer um das Argument ad absurdum zu führen. Die Autorin jongliert mit Birnen und Äpfeln und kann sie am Ende nicht mehr auseinanderhalten...das ist für ein Wissenschaftlichkeit beanspruchendes Buch erbärmlich und den Anspruch hat sie, da sie oft genug auf Studien und Fachzeitschriften verweist.)

Suizid und Evolution
Dann beschäftigt sich die Autorin mit evolutionären Aspekten des Suizids. Also der Frage ob Suizide aber auch Suizidversuche adaptive Funktionen sein könnten (d.h. durch natürliche Auslese genetisch verankerte und gesteuerte Verhaltensweisen).
Das bedingt Zweierlei: 1) Dass es einen entsprechenden Selektionsdruck gab und 2) dass solches Verhalten der inklusiven Fitness dient. Da dies für in der Materie nicht kundige hier nur `Bahnhof` verstehen, werde ich nur auf die Thesen der Autorin bezüglich der adaptiven Funktion von Suizidversuchen eingehen, da diese dermassen haarsträubend absurd sind (in meinen Augen zumindest).
Zuerst die Grundlage: in der Soziobiologie wird offenbar nicht-egoistisches Verhalten wozu auch ein Suizid gehören würde immer als versteckt egoistisch interpretiert. Da gemäss der These des `egoistischen Gens` das einzige Interesse lebender Individuen die Vermehrung ihrer Nachkommen, d.h. genauer: seiner Gene ist. Dies ist eine mathematische bzw. (tauto-)logische, manche sagen zirkuläre Notwendigkeit, wen man das Verhalten als primär von den Genen diktiert annimmt. Jeder der lebt, hatte notwendigerweise Vorfahren im Rücken die sich konkurrierend als die stärkeren erwiesen. Erfolgreiches Verhalten beruht auf `guten Genen`. D.h. wer überlebt transportiert und ist notwendig Träger von guten Genen. Überleben/sich Fortpflanzen fällt in eins mit erfolgreichen Genen. Nun kann es aber sein, dass ich nur wenig Chancen besitze meine Gene weiterzugeben, hingegen könnte ich durch Unterstützung meiner Schwester und ihren Kindern dazu beitragen dass sie ihre Gene weitergeben kann. Der Clou ist natürlich, dass ich 50% identische Gene mit meiner Schwester habe und je 25% mit ihren Kindern, d.h. indirekt erhöhe ich meine eigene Fitness (die Weitergabe meiner Gene) indem ich sie unterstütze. Das bezeichnet man als inklusive Fitness. Natürlich sind auch solche Verhaltensweisen genetisch selektiert worden.
Zur Anwendung: Die Autorin glaubt, dass es plausibel ist anzunehmen, dass Suizidversuche in solchen genetisch verankerten Mechanismen gründen. D.h. dass früher aber auch heute noch diese genetische Determination eine Rolle spielt (natürlich nicht bewusst). D.h. konkret (sie nennt nie ein illustratives Beispiel) dass sagen wir in der Steinzeit (Nahrungsknappheit, die Lebensuntauglichen starben vorzeitig, Energie und Ressourcen verbrauchende Pflege Einzelner wäre der Gruppe eher abträglich etc.) vergiftete sich also eine Frau/Mann mittels Pflanzen oder brachte sich mit Steinwerkzeugen eine potentiell tödliche (!) Wunde bei, wurde dann gefunden, gerettet und nach diesem misslungenen Versuch durch erhöhte Fitness entschädigt, denn eine solche Strategie kann sich evolutionär nur durchsetzen wenn der Gesamtnutzen aller so Handelnder ein positiver ist (einige werden ja sterben was eine schlechtere inkl. Fitness ergibt etc.). Aber Hallo? Klingt das nicht eher unwahrscheinlich? Selbst heute lebende Urstämme kennen da ganz andere Mechanismen, Konventionen um Gruppenmitglieder die eine Last sind loszuwerden. Also mal ganz davon abgesehen, dass die Autorin ihre These in den luftleeren Raum stellt ohne irgendwie auf konkrete Lebensumstände vor 100`000 oder mehr Jahren einzugehen (und eine Adaption hätte wohl noch längere Zeiträume erfordert), scheint es generell eine sehr gewagte These: ausgerechnet die Schwächsten sollen in den Rang der Stärksten erhoben werden? Bei solcher Praxis hätte der Stamm nicht lange Bestand gehabt.
Nun aber in die Gegenwart und zum Höhepunkt ihrer Argumentation: Wichtig zu sagen, dass die Autorin wert darauf legt festzustellen, dass Suizidversuche, damals wie heute potentiell letal sein mussten, für Aussenstehende also die Überzeugung entstand: dieser Mensch wollte sich wirklich töten. Die Autorin bedient sich nun gerade einer einzigen Studie mit weniger als 100 Teilnehmern: alle Teilnehmer hatten einen misslungenen Suizidversuch hinter sich, der bei allen als ernsthaft eingestuft wurde (Kriterien bleiben ungenannt). Nun das erstaunliche Resultat dieser Studie: das Einkommen jener die einen ernsthaften Suizidversuch unternommen hatten erhöhte sich in den Monaten nach dem Versuch durchschnittlich (auf welcher Grundlage wurde dieser ermittelt?) um 20.6 % (dies im Vergleich zu einer `Kontrollgruppe` deren Mitglieder lediglich ernsthaft Suizid erwogen aber keine Tat begingen...keine Angaben ob und wem gegenüber sie diesen Wunsch äusserten). Und weiter: die Höhe der Einkommenssteigerung korrelierte mit der potentiellen Tödlichkeit der gewählten Methode...wie wurde die gemessen?). D.h. je grösser der Todeswunsch schien desto grösser die Einkommenssteigerung. Nun, da fallen mir einige Fragen ein, die allesamt leider im Buch nicht beantwortet werden: a) Was ist diese Studie wert. Lässt sie sich mit ähnlichen Ergebnissen wiederholen (was ich sehr bezweifle)? Sind die Ergebnisse sehr kultur-abhängig, d.h. wären sie in einem anderen Staat von Amerika durchgeführt vergleichbar? Wie in Ländern mit völlig anderer Kultur?b)Falls die Daten korrekt erhoben und interpretiert wurden, was besagen sie bestenfalls aus? c) Gibt es ganz andere mögliche Gründe für solche Einkommenssteigerungen? d)Lässt sich ein allfälliger Zusammenhang herstellen zu angeblich adaptiv erworbenen (Suizidversuch-)Verhaltensweisen und falls ja mittels welcher Begründung, denn auf den ersten Blick existiert gar kein Zusammenhang?
Denn das behauptet die Autorin weiter: dass diese Studie ein Indiz sei, dass die adaptive These zutrifft. Für jeden ernsthaft Lesenden gehen die Augenbrauen da gewaltig nach oben. Die Einwände sind zahlreich, so dass ich sie nur noch Stichwortartig erwähne: Was hat die finanzielle Entlöhnung einer Firma mit inkl. Fitness zu tun? In der heutigen Konkurrenzgesellschaft: geht man in Firmen so mit Personen um die offenbar wenig konkurrenztauglich sind und für die Firma eine Belastung darstellen? Bleibt jemand nach einem Suizidversuch nicht in einem so oder so extremen Zustand (extrem glücklich und motiviert es wieder gut zu machen: Einkommenssteigerung? Oder immer noch labil und nicht belastbar: warum Lohnsteigerung? Frühere adaptive Anpassungen konnten nur in Gruppen entstehen wo Verwandtschaftsverhältnisse die Regel waren (inkl. Fitness), wo sind die in Firmen? Es müsste sich auch so etwas wie eine ergänzende Verhaltensweise adaptiv auf Seiten der Helfer ausgebildet haben: aber wer Suizidversuche unternimmt, steht er generell am Schluss mit besseren Karten da als zuvor, erfährt er vorwiegend verständnisvoll-mitfühlend oder mitleidige Reaktionen (evtl. von Verwandten, aber von Fremden? Dies würde zwar möglicherweise eine adaptive Interpretation erlauben, aber bestimmt nicht, dass Gehaltserhöhung ein solcher Fall darstellt. Verneint man die adaptive These muss man allerdings fragen: warum Gehaltserhöhungen...meine Vermutung: weil die Studie manipuliert ist und/oder allenfalls nur in sehr spezifischen kulturellen Umfeldern zu solchen Resultaten führen würde...aber selbst dann: falls auch nur eine Studie tatsächlich diese Ergebnisse erbringt, frage ich mich schon sehr woran das liegt. In Japan mit ihrer (früheren) Firma=Familie-Ideologie vielleicht nachvollziehbar, aber in Amerika? Die Studie wurde im übrigen von einem Ökonomen gemacht). Freilich wird er auch Zuwendung erhalten, aber heute und noch mehr vor einigen Jahrzehnten: da war man doch stigmatisiert für immer. D.h. selbst wenn es eine solche adaptive Anpassung geben sollte, ist sie wohl längst überlagert durch soziale Normen und auch genetisch dadurch am aussterben (gerade auch wenn man bedenkt wie das eigene Kinder zeugen für viele nur noch von relativem Wert ist, müsste klar sein, wie wenig angebliche und falls dann sehr `randständige` Adaptionen wie Suizid(versuch) sich gegen widerständige sozio-kulturelle Gegebenheiten durchsetzen könnten (die Autorin meint, dass in heutiger Zeit das genetische Verhalten mit heutigen kulturellen Belohnungsmitteln `umgesetzt` wird: Geld statt direkt verbesserte inkl. Fitness) . Und wie liesse sich solches Verhalten als adaptives empirisch überhaupt verifizieren zw. falsifizieren?! Falls überhaupt scheint es mir eher in die soziobiologische Verhaltens-Kategorie `tit-for-tat` zu fallen (altruistisches Verhalten).
(Man kann erahnen warum ich das Buch als erbärmlich bezeichnete: es ist völlig untauglich um auf empirischen Fakten basierende Erkenntnisse zu gewinnen, die Autorin spekuliert wild in der Gegend herum und man hat den Verdacht: auf ihre ideologische Mühle. Es scheint mir ihrer Grundintention nicht abträglich wenn sie Suizide als biologisch unvermeidlich taxiert. Diese Intention ist die völlige, schrankenlose Freigabe von sanften Suizid-Methoden (ausgenommen: Eltern von Kindern soll es verboten sein wegen moralischer Pflicht. Kein Weiterargumentieren an diesem Punkt. Ein eigenartiger Konservatismus im Vergleich zu ihren ansonsten sehr `fortschrittlichen` Postulaten). Damit verbunden keine Hilfsangebote/Rettungsversuche bei Suizidversuchen mehr, da sichere-sanfte Methoden (die angeblich jeder wählen würde) die Vortäuschung sterben zu wollen absurd machen würde, weil nicht mehr glaubhaft zu vermitteln(!). D.h. wenn sanfte Methoden zugänglich wären, wäre jeder Suizidversuch der Versuch zu sterben und keiner könnte noch als Appell oder ähnliches interpretiert werden. Dies widerspricht zwar dem evolutionären Motiv welches sie als Grund auch für blosse Versuche unterstellt, aber was soll`s (wenn man allerdings bedenkt, dass die Autorin unzulässiges Wort als adaptiver Mechanismus noch heute als existierend erachtet, nun aber glaubt, dass eine kulturelle Modifikation (Freigabe sanfter Methoden) diesen, allenfalls unmittelbar!, aushebeln würde, dann muss man schon fragen, inwiefern ihre Argumentation konsistent ist). Zwar betont sie, dass mittels solcher evolutionärer Thesen die Prävention besser wirken könnte, da man obige Suizidursache 2) nun noch differenzieren könne in Verwandte, Freunde etc., aber das ist doch schon dem gesunden Menschenverstand naheliegend, dass Verwandte in der Regel die wichtigsten Bezugspersonen sind (und stimmt diese Intuition nicht, dann ist natürlich auch die ganze evolutionäre Spekulation völlig überflüssiges Hirngewichse), mir scheint das eine reichlich schwache Begründung und mehr ein krampfhafter Versuch ihrer These irgend einen Nützlichkeitswert beizumessen. Kennzeichen gut argumentierender Autoren ist u.a. dass nahe liegende Einwände (siehe oben) bereits vorweggenommen werden und argumentativ darauf eingegangen wird. Das macht die Autorin aber viel zu selten, weshalb man am Ende einen Haufen Einwände hat, aber kaum Antworten. Und zuletzt: gibt es ein einziges denkbares Verhalten welches sich nicht soziobiologisch interpretieren liesse, ich vermute nicht...dann wäre aber auch das ganze Unternehmen Soziobiologie nicht wissenschaftlich zu nennen (allerdings ist die Soziobiologie mittlerweile als Wissenschat anerkannt, also irre ich hier wohl).

Soviel off Topic...das nächste Mal zum thread-Thema: Suizid und Nachahmung. Für Nörgler: ich übe mich im Zeit totschlagen als Propädeutik zum mich selber totschlagen.
Zuletzt geändert von Girlxxx am Montag 11. Mai 2015, 18:21, insgesamt 1-mal geändert.
Girlxxx

Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Girlxxx »

Dieselbe Autorin (Sarah Perry) zum Thema: Suizid und Ansteckung/Nachahmung: (Kommentare von mir kursiv geschrieben)

Die Autorin nennt behauptete Phänomene sozialer `Ansteckung`: Heimweh, Apotemnophilie (sexueller Lustgewinn durch Amputation!), Multiple Persönlichkeitsstörung (!), Konvente der Ursulinen (!). (Wenn schon solche Merkwürdigkeiten ansteckend wirken können, dann der Suizid doch bestimmt auch...würde man annehmen.)
Dann problematisiert sie kurz die (Un)Angemessenheit des Begriffs `Ansteckung` im Kontext von Verhaltensnachahmung.
Dann nennt sie ethische Implikationen bei angenommener Nachahmungstendenz bei Suiziden: bezogen auf Suizidanten hiesse das Zweierlei: a) dass sie, weil sie `angesteckt wurden` weniger verantwortlich sind für ihre Tat (was wiederum die moralisch entscheidende Frage tangiert: töten sich Menschen durch Nachahmung die es ansonsten nicht getan hätten...d.h. `Ansteckung` würde Zurechnungsfähigkeit tangieren) und b) dass zugleich aber ein starkes ethisches Gewicht gegen die Ausführung eines Suizides spricht, da es durch `Ansteckung` weitere bewirken könnte. Dies vorausgesetzt, dass Suizide überhaupt etwas zu Verhinderndes sind, d.h. grundsätzlich etwas Schlechtes sind. Das Ansteckungs-Argument werde von einigen Autoren als neues moralisches Argument gegen Suizide ins Feld geführt (da der Suizid ansonsten weitgehend moralisch enttabuisiert wurde, dafür vermehrt pathologisiert). (Da die Autorin tendenziell pro Suizid eingestellt ist, ist klar, dass der Aufweis, dass Suizide nicht `ansteckend` wirken ihrem Standpunkt entgegenkäme...).
Dann wendet sich die Autorin wissenschaftlichen Studien zu, das heisst epidemiologische Studien bezüglich dem Auffinden von `Clustern` (Mustern, Anhäufungen) von Suiziden in Raum und Zeit. Hier geht sie dann auf einzelne Studien bzw. Forscher ein. Insgesamt besagen die Studien bzw. deren Interpreten nichts Einheitliches: von der als klar berechtigt behaupteten Annahme von `Ansteckungswirkungen` bis hin zur Interpretation, dass festgestellte `Cluster` mehrdeutig interpretierbar seien (und die empirischen Daten nicht für `Ansteckung` sprächen, wie auch `Ansteckungs`-Konzepte schlecht ausgearbeitet seien).
Die Autorin fragt warum solch unterschiedlichen Interpretationen zu zur gleichen Zeit erhobenen Studien. Dazu klärt sie was `Ansteckung` denn genau besagt. Dabei kommt sie zum Schluss dass das Wort `verursacht` der problematische sei (ein bekannt gewordener Suizid verursache einen anderen), weil dies von einer determinierenden Grösse bis hin zu einem minimen Einfluss alles implizieren könne.

Dann wechselt sie zur Frage was inhaltlich `angesteckt` wird, also die genauer bestimmte `Ursache` der Ansteckung. Sie unterscheidet einen informativen und den moralischen Aspekt.
Moralisch vermittelt ein Suizid die Botschaft: `Suizide sind akzeptabel`. Er vermittelt die soziale Legitimierung, dass ein Suizid zu begehen eine legitime Handlung für das Lösen von Problemen darstellt, gerade auch dann wenn berühmte Personen einen solchen begehen. Vor allem Theorien sozialen Lernens betonen diese Seite, wie auch Gegner von Suizid (`Suizide sagen: Suizide sind moralisch o.k.`).
Der zweite Aspekt betrifft die Methode. Da Informationen wie man sich zuverlässig und sanft umbringen kann rar sind, sind gerade solche in Medien oder anderswie vermittelten, ansteckend. (Inwiefern dieses Informationsmanko noch eher auf die USA zutrifft als auf Europa sei dahingestellt, die Autorin stellt diesen Befund für die USA als Tatsache fest...auf alle Fälle wäre dieser Aspekt nur relevant bei Suizidalen die eben solche Infos nicht haben und sie per bekannt gewordenem Suizid vermeintlich erhalten). Auch hier ist die Moral implizit: `Begehe keinen Suizid, ansonsten andere von dir lernen wie es geht`.
Dann nennt sie die Publikation des Buches `Final Exit` in 1991. Suizide durch Sauerstoffmangel seien im darauffolgenden Jahr um 313% gestiegen (die Gesamtzahl der Suizide allerdings nicht). Die Autorin negiert, dass dies in den Kontext von `Ansteckung` bzw. Nachahmung gehört wie es ein Autor einer Meta-Studie tut. Sie argumentiert, dass Personen die sich (so oder so) suizidieren wollten mittels Recherche sich die Informationen aktiv beschafften im Gegensatz zu reiner Nachahmung.(Bestimmt gibt es da Unterschiede, allerdings ist der Kernpunkt von sonst rarer Informationsvermittlung derselbe. Auch ist merkwürdig, dass die Autorin schreibt, dass jene die sich mit Hilfe des Buches töteten dies so oder so wollten, das Buch also auf den Suizidwunsch keinen Einfluss hatte. Falls die Suizidzahlen nach der Buchherausgabe gleich blieben, dann spricht das wiederum gegen die frühere These der Autorin, dass Suizidale auf Methoden fixiert seien, denn hier wechselten sie die Methode offenbar (angenommen es hätten sich dieselben Personen mit oder ohne Handbuch suizidiert, was durchaus nicht der Fall zu sein braucht...Hier zeigt sich das entscheidende Problem: suizidieren sich Personen wegen solchen Informationen, die es `eigentlich` nicht tun wollten bzw. nur in einer vorübergehend suizidalen Phase sich befanden, oder aber verhilft es Personen zu einem einfacheren Abgang die sonst eine härtere Methode gewählt hätten...moralisch ist das die entscheidende Frage. Leider wird es von der Autorin nicht explizit thematisiert...ich habe in einem anderen thread das Problem bereits bis ins Subtilste analysiert). Die Autorin meint, dass vor allem die Informationen bezüglich der Methode im Vergleich zur direkt moralisch-sozial legitimierenden für die mögliche Ansteckungswirkungen verantwortlich sei.

Das nächste Thema der Autorin sind `Mass Clusters` und `Point Clusters` bei Suiziden (diese Unterscheidung von zwei anderen Autoren übernehmend). Ein `Mass Cluster` ist eine Episode von Suizidzunahme auf der nationalen Ebene ohne binnenräumliche Differenzierung. Ein `Point Cluster` bezieht sich auf räumlich eng begrenzte Bereiche (Schule, Gefängnis, Spital). Die Autorin meint, sich an Joiner (ihren Hauptgewährsmann) anlehnend, dass die Existenz von `Mass Clusters` überhaupt sehr fraglich sei. In den seltenen Fällen wo solche klar auszumachen seien, sei auch offensichtlich, dass die Information zu verwendeten Methoden der entscheidende Inhalt der `Ansteckung` gewesen sei.
Für die Existenz von `Point Clusters` gebe es hingegen gute Evidenz. Allerdings, und wiederum sich auf Joiner beziehend, seien diese auch anders als durch `Ansteckung` erklärbar (Joiner nennt hier die Tatsache, dass sich gleiche `Charaktere` tendenziell zusammentun, dass also suizidale Personen räumlich ihrer Natur nach eher zusammenfinden, ohne dass hier `Ansteckung` überhaupt eine Rolle spiele...eine gewagte These wie ich finde, denn selbst dann wenn man die These akzeptiert, dass sich z.B. Suizidale zusammenfinden, impliziert das kein Entweder-oder: auch unter ähnlich Denkenden kann es noch massive Beeinflussung geben...wie könnte man diesen Faktor methodisch eliminieren?).
Da nur schon die Feststellung ob ein `Cluster` vorliegt, von Vorannahmen abhängt, seien die Angaben wie viele Prozent aller Suizide in `Clustern` existieren weit gestreut: da werde von 1% bis 13% oder mehr geredet. Zuletzt resümiert die Autorin eine Studie die 55 separate Studien mit Angaben zu insgesamt 419 gefundenen `Clusterings` untersuchte, mit dem Befund, dass 65% der `Cluster` keine `Ansteckung` nahe legt.
Fazit der Autorin: Die Beweislage für `Clustering` wie auch deren Ursache `Ansteckung` sei zweideutig und die Eigenarten und Besonderheiten subtil. D.h. insgesamt ist die Autorin skeptisch was die These anbelangt, dass (viele) Suizide nachgeahmte sind (dass dieses Ergebnis ihrer Grundintention entgegenkommt, sei am Rande erwähnt, ob nun ihre Analyse beeinflussend oder nicht offen lassend...immerhin scheint mir ihre Studienauswahl quantitativ völlig unzureichend, aber vielleicht liegen einfach auch nicht mehr vor). Einen Fall, der auch von ihr als `Mass Clustering` zur Folge habend eingeschätzt wird, behandelt sie zum Abschluss: den Suizid von Marilyn Monroe.


Dazu ein andermal...
Girlxxx

Re: Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Girlxxx »

Hier ein Abriss der Ausführungen der Autorin Sarah Perry zum Suizid von Marilyn Monroe im Kontext der Frage nach `Ansteckung`/`Nachahmung` und anderen diesbezüglichen Fragen:

M. Monroe starb durch eine Überdosis des Barbiturates Nembutal (5. August, 1962). Nachahmungseffekte liessen sich selbst ohne statistische Analysemethoden herauslesen, wenn man die Suiziddaten der Jahre vor und nach ihrem Suizid betrachtet: in der Woche nach Monroes Tod lag die Suizidrate um 12% (=197 Suizide) über den statistisch zu erwartenden Werten. Aber auch auf der monatlichen und jährlichen Ebene ist der Anstieg feststellbar. Die Nachahmung betrifft im besonderen Frauen wie auch die von Monroe benutzte Methode. Dann folgen zwei Grafiken, die erste zeigt die allgemeinen Suizidraten zwischen 1958 und 1971 (Monroe starb 1962) wie auch jene die mit Giften vollzogen wurden. In beiden Fällen ist ein Anstieg gegeben. Die allgemeine Suizidrate erhöhte sich von 10.5 auf 11.5, jene von solchen mit Giften von 2.3 auf 3.0. Daraus lässt sich schliessen, dass Prozentual mehr Personen sich mit Barbituraten suizidierten, nicht aber, dass die vermehrten Suizide mit Giften für den Gesamtanstieg mitverantwortlich ist. Die Autorin interpretiert diesen Grafen wie folgt: die Rate der Gesamtsuizide veränderte sich unwesentlich, hingegen erhöhte sich diejenige mit Giften um 30% und jene spezifisch mit Barbituraten verdoppelte sich. (Mir scheint diese Interpretation nur bedingt korrekt: die Gesamtsuizide stiegen um etwa 10%, jene von Suiziden mit Giften um etwa 30% und jene mit Barbituraten um 50%).
Dann folgt eine Statistik spezifisch für Suizidraten mit Barbituraten zwischen 1958 und 1970. Hier zeigt sich eine graduelle Zunahme seit 1958. Im Jahre 1962 gab es aber ein klar verstärkte Zunahme bis hin zum Höhepunkt im Jahre 1963, danach eine kurzeitig steile Abnahme mit einem nochmaligen steilen Anstieg, dann eine insgesamt abnehmende Tendenz. Die Statistiken zeigen eine nicht ganz doppelt so hohe Anzahl von Suiziden mit Barbituraten bei Frauen wie bei Männern, und dieses Verhältnis verändert sich um die Jahre von Monroes Suizid nicht. Dies alles beschreibt die Autorin korrekt.
Dann kommt eine Statistik die die jährlichen Suizidraten monatlich differenziert. Vergleiche der Monat-Suizidraten der Jahre vor und nach Monroes Suizid werden dann von der Autorin interpretiert. Die Statistik hält fest, dass im Jahre von Monroes Suizid (1962, 5. August) es einen auffälligen Anstieg vor allem von Barbiturat-Suiziden (und einen leichten allgemeinen Anstieg) zwischen den Monaten Juli und August gibt wenn man die gleichen Monate der vergangenen Jahre zum Vergleich nimmt.
Die Autorin erwägt nun unterschiedliche Erklärungen für dies Zahlen (d.h. vor allem die prozentual auffälligsten Steigerungen: Suizide durch Frauen mit Barbituraten in den Monaten und Jahren nach Marilyns Tod): Koinzidenz ohne kausalen Bezug zu Monroes Suizid überhaupt, oder aber ein dritter Faktor existiert der sowohl für Monroes Suizid wie jener der Frauen in den folgenden Jahren verantwortlich war. Die Autorin kommt in ihrer Interpretation der bestehenden Korrelation von Monroes Suizid und danach zunehmenden Barbiturat-Suiziden aber zum Schluss, dass vieles für einen direkten Kausalzusammenhang spräche. (Womit sie vermutlich nicht Unrecht hat.)
Dann kommt sie zur Frage was eine Nachahmung bewirkte (informative oder moralische `Ansteckung`). Sie kennzeichnet den Suizid von Monroe als hochgradig informativ: so sei z.B. auf der Frontseite des `New York Mirror` die Anzahl Tabletten angegeben gewesen (Barbiturate waren damals relativ leicht zu beschaffen, heute mehrheitlich durch ungefährlichere Benzodiazepine ersetz). Die Autorin fasst die Botschaft der Zeitung wie folgt zusammen:`40 Nembutal oral eingenommen wirken bei einer kleinen Frau tödlich`. (Auf dem abgedruckten Frontblatt der Zeitung steht nichts von Barbituraten, nur von 40 Pillen, aber da die Autorin Barbiturate explizit nennt, muss es wohl im Artikel der Zeitung erwähnt sein oder aber unter Pills konnten schlicht nur Barbiturate verstanden werden). (Allerdings frage ich mich ob es hier nicht neben der Alternative der moralischen `Ansteckungs`-Information eine Dritte gibt: eine starke Identifizierung (von Frauen) mit Monroe, dann wäre ihr Tod der Auslöser für eine suizidale Krise gewesen, die vorher nicht vorhanden war.)
Die Autorin fasst zusammen: Monroes Suizid war ein ungewöhnlich klares Beispiel für einen anscheinenden `mass suicide cluster`. Verglichen mit anderen angeblichen `clustern` sei jener bei Monroe sehr stark.

Dann wendet sich die Autorin der Frage zu welche spezifische untersuchten Zielgruppen die Wahrscheinlichkeit `cluster` zu finden erhöht. Sie nennt: Suizidraten von Frauen, der Prominentenstatus des Suizidenten (vor allem wenn aus Politik oder Entertainment...Frage: warum berücksichtigt sie diesen Aspekt in der oben von mir genannten Relevanz (Identifikation) nicht im Falle von M. Monroe, gerade auch weil sie explizit sagt, dass bei Suiziden von Prominenten eine höhere positive Korrelation zu `clustern` festzustellen sei? Allenfalls könnte man die Identifikation als Voraussetzung der `moralischen Ansteckung` deuten: nur wer jemanden verehrt, sieht ihn als moralisch relevantes Vorbild. Dennoch scheint mir solche Subsummierung der Sache nicht gerecht zu werden...interessant wären hier Studien zu anderen prominenten Suizidenten). Dann und wichtig: wenn ein Suizid in den Medien negativ bewertet, dargestellt wird dann sei der feststellbare Nachahmungseffekt geringer als bei Studien die neg. bewertete Suizide nicht berücksichtigten. Auch interessant, dass bei jugendlichen Suiziden `cluster` weniger zu beobachten sind als in der Gesamtbevölkerung. D.h. das widerspräche der These, dass Suizid-Nachahmung vor allem bei Jugendlichen anzutreffen sei.(Kritisch anzumerken, dass die Autorin diesbezüglich genau einen einzigen 2-Seitigen Artikel als Quelle nennt).

Dann untersucht die Autorin ob und inwiefern Medienberichte über Suizide kausal weitere Suizide mitverursachen können, sie also ein Risikofaktor für künftige Suizide darstellen.(Da die Autorin gegen Zensur von Suizid auf allen Ebenen ist (mit sehr wenigen Ausnahmen), kann man davon ausgehen, dass ein negatives Resultat ihrem Interesse entgegenkäme...). Dazu stellt sie folgende zu prüfende These auf: wären Medienberichte über Suizide mitverantwortlich für spätere Suizide, dann könnte man annehmen, dass Personen die einen fast-tödlichen Suizidversuch überlebten in letzter Zeit weit wahrscheinlicher mit einem Suizidbericht konfrontiert waren als eine Vergleichsgruppe nicht-Suizidaler. Im Umkehrschluss hiesse dies, dass wenn keine signifikanten Unterschiede bezüglich einem Konfrontiert sein mit medialen Suizidberichten vorläge, dies dafür spräche, dass Medienberichte weniger wahrscheinlich in einem signifikanten Ausmass auf das suizidale Verhalten von Personen Einfluss ausüben. (Als erstes ist unklar was die Autorin mit `non-suicidal matched controls` meint. Die Kontrollgruppe bestand meiner Übersetzung gemäss aus Personen die nicht suizidal waren, also die mit Suizid `nichts am Hut hatten`. Dies vorausgesetzt wäre ihre These wie folgt zu kritisieren: nirgends ist davon die Rede, dass Medienberichte monokausal Suizide bewirken, ein Punkt den die Autorin selbst thematisiert bezüglich dessen was `verursachen` denn zu bedeuten habe (habe ich oben thematisiert) und sie kommt nirgends selbst zum Schluss, dass Medien Einflüsse sind die ausschliesslich Suizide bewirken können. Sowohl informative wie moralische Ansteckung setzen ja evidenter Weise eine Suizidalität bereits voraus: keiner bringt sich um bloss weil es sozial legitim ist oder er eine sichere Methode kennt (bei der Identifikationsthese wäre es etwas weniger klar). Ihre These scheint dermassen absurd in dieser Hinsicht (da sie voraussetzt, dass völlig `Unsuizidale` lediglich durch das Konfrontiert werden mit einem Suizidbericht einen fast-tödlichen Versuch unternehmen könnten), dass man fragt ob die Übersetzung korrekt ist, denn würde die Vergleichsgruppe aus Suizidalen bestehen, die aber keinen Suizidversuch unternahmen, dann würde ihre These diesbezüglich Sinn machen. Aber nicht nur die Vergleichsgruppe scheint hier völlig untauglich zu sein, sondern auch die Gruppe jener die einen fast-tödlichen Suizidversuch überleben: dass die Mehrzahl der Suizide nicht von `Nachahmung` betroffen ist, also ausserhalb von `Clustern` auftritt (siehe oben) wurde schon festgestellt. Das heisst aber, dass eine Stichprobe von Personen mit Suizidversuchen entsprechend gross zu wählen wäre, d.h. je kleiner die vermutete Anzahl von Cluster-Suiziden desto grösser müsste die Stichprobe sein um signifikante, nicht-zufällige Resultate zu erhalten. Da aber auch unklar ist wie viele Suizide Cluster-Suizide sind (das will ja diese These und ihre allfällige Verifizierung ja erst heraus finden) scheint die Wahl einer angemessenen Stichprobengrösse in der Luft zu hängen. Und da die Autorin behauptet, dass in diesem Fall ein Fehlen einer Korrelation zwischen Suizidversuchern und deren Exposition mit Medienberichten über Suizide, ein Indiz sei, dass Medienberichte nicht kausal wirksam seien, scheint die Stichprobengrösse eine relevante Grösse zu sein.)
An dieser Stelle wechselt die Autorin zu einer Studie mit eben beschriebenen Aufbau: 153 Menschen, Alter: 13-34, die einen fast-letalen Suizidversuch hinter sich hatten und 513 nicht-suizidale Personen in einer Kontrollgruppe wurden befragt zu ihrem Konfrontiert ein mit medialen Suizidberichten, wie auch zu suizidalem Verhalten bei Eltern, Verwandten und Freunden. Resultat (und man staune): das Ausmass von suizidalem Verhalten bei Eltern und Verwandten unterschied sich bei beiden Gruppen nicht wesentlich. Einen Unterschied gab es allerdings bezüglich suizidalem Verhalten von Freunden und dem Konfrontiert sein mit medialen Suizidberichten: in beiden Fällen waren die nicht-Suizidalen signifikant mehr konfrontiert mit entsprechendem Verhalten bzw. Berichten! Die Autorin folgert (betonend, dass dies auf der Basis von nur einer einzigen Studie erfolgt...anderswo ist sie nicht so kritisch/ehrlich und man fragt: gibt es nur diese Studie, das scheint doch eher unwahrscheinlich zu sein...), dass das Konfrontiert sein mit medialen Suizidberichten und/oder suizidalem Verhalten von Freunden eine Suizidpräventive Wirkung habe. Sich selber zu suizidieren würde es also weniger wahrscheinlich machen, dass Freunde sich suizidierten! (Kritik: wie oben schon gesagt: die Kontrollgruppe ist völlig untauglich, es sei denn man geht davon aus, dass Medienberichte oder anderweitige Erfahrung mit Suizidalen, monokausal für Suizidversuche verantwortlich sind. Eine absolut absurde Annahme (siehe oben). Ich gestehe: ich habe an dieser Stelle ein Problem: einerseits, dass mir die Kontrollgruppe als nicht bezweifelbar untauglich scheint, wie aber andererseits hier eine Studie doch wohl von professionellen Personen unter eben solcher Bedingung gemacht wurde. Das Problem ist ja dermassen evident: eine Kontrollgruppe hat der relevanten Gruppe möglichst gleich zu sein, bis auf den zu prüfenden Faktor. Nun, wie auch immer. Blendet man dieses Problem aus, bleiben aber noch Fragen: selbst wenn die Kontrollgruppe aus Suizidalen bestanden hätte, scheint die Folgerung der Autorin nicht zwingend zu sein. Gerade weil die Ergebnisse kontra-intuitiv scheinen (natürlich nicht bei völlig `gesunden` Menschen!) wäre zu fragen ob da nicht andere Faktoren für das Resultat verantwortlich waren und da lacht es einem doch förmlich an was hier ausschlaggebend hätte sein können: die grössere Suizidalität der eigentliche Gruppe gegenüber der Kontrollgruppe. Wie könnte man eine Kontrollgruppe finden, die durchschnittlich ebenso stark suizidal war wie jene Gruppe mit gescheiterten Suizidversuchen? Die Antwort ist klar: gar nicht! Wie auch? Gleich suizidal wäre eine Kontrollgruppe gewesen wenn deren Mitglieder ebenfalls einen gescheiterten Versuch hinter sich gehabt hätten (mit vergleichbar grosser Tötungsabsicht, ergo vergleichbar tödlicher Methode...und schon dieses Kriterium ist problematisch.) Kurzum: die Versuchsanordnung scheint zirkulär zu sein, da man Unterschiede a priori auf unterschiedliche Konfrontation mit Suiziden in welcher Form auch immer zurückführt, was aber eben gerade zu beweisen wäre und nicht vorauszusetzen. Noch ein Punkt: da die Autorin behauptet, dass der Informations-Aspekt für `Ansteckung`/`Nachahmung` relevant sei: wurden die Einflüsse der Personen beider Gruppen darauf hin untersucht? Und ich bin sicher: nein, da die Autorin zuvor schon bemängelt hatte, dass diese Differenzierung kaum beachtet werde. Ist sie aber relevant, dann wären Einflüsse nur relevant wenn sie diesbezügliche Informationen enthielten. Dass die Autorin den Informationsaspekt meiner Meinung nach überstrapaziert, könnte damit zusammenhängen, dass sie es aus dem moralischen Dunstkreis lösen will: dass Suizide, so sie `ansteckend` sind, es nicht darum sind weil sie es als moralisch legitimieren, damit nimmt sie moralisch argumentierenden Gegnern den Wind aus den Segeln. Es liessen sich weitere Probleme nennen, aber das Gröbste hab ich genannt. .)
Die Studie wurde auch von anderen Forschern kritisiert wie die Autorin explizit anfügt: a) bemängelt wurde das Alter der Teilnehmer zwischen 13-34, da bekannt sei (!), dass diese nicht signifikant auf Beeinflussung reagierten. Dagegen wurde vorgebracht, dass Studien mit Jugendlichen nur besagten, dass Jugendliche weniger zu Nachahmung neigen als Studien der Gesamtbevölkerung, es aber unter nicht Jugendlichen klare Indizien für `Clustering` gäbe etc.(Ich gestehe, dass ich diesbezüglich skeptisch bin, gerade Jugendliche müssten für `Nachahmung` prädestiniert sein, folgt man den Ansteckungskriterien der Autorin erst recht: wenig vorhandenes Wissen, d.h. grosse Beeinflussbarkeit durch `Informations`-Ansteckung, grosse Neigung zur Identifikation (mein Kriterium) mit berühmten Menschen und Gleichaltrigen z.B., aber wie auch immer: es ist das grosse Manko des Buches von Perry insgesamt, dass sie Behauptungen aufstellt, vielfach kontra-intuitive, ohne diese durch eine genügend grosse Anzahl von fundierten (ja, oftmals sogar durch schlicht untaugliche) Studien belegen zu können). Aber nirgends wird die Problematik der Kontrollgruppe genannt...vielleicht kann ein Leser (so es einen gibt) mir diesbezüglich auf die Sprünge helfen?

Dann geht sie noch darauf ein warum `Clustering` und also `Ansteckung` weit häufiger in Studien zu Suiziden von Frauen als in jenen zu Männern oder der Gesamtbevölkerung anzutreffen sind...


Rest folgt später...
Balduin
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Re: Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Balduin »

Der sehenswerte TV-Mehrteiler "Tod eines Schülers" lief 1981 im ZDF. Er wurde einmal wiederholt. Es geht um den Schienensuizid eines Teenagers, die Hintergründe und die vermeintlich Schuldigen.

Nach beiden Ausstrahlungen, so wurde berichtet, stieg die Suizidquote bei Jugendlichen belegbar. Der klassische "Werther-Effekt". Von weiteren Wiederholungen sah man daher ab. Auf DVD ist die Serie aber erhältlich.

http://de.wikipedia.org/wiki/Werther-Effekt
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Re: Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Girlxxx »

Balduin hat geschrieben:Der sehenswerte TV-Mehrteiler "Tod eines Schülers" lief 1981 im ZDF. Er wurde einmal wiederholt. Es geht um den Schienensuizid eines Teenagers, die Hintergründe und die vermeintlich Schuldigen.

Nach beiden Ausstrahlungen, so wurde berichtet, stieg die Suizidquote bei Jugendlichen belegbar. Der klassische "Werther-Effekt". Von weiteren Wiederholungen sah man daher ab. Auf DVD ist die Serie aber erhältlich.

http://de.wikipedia.org/wiki/Werther-Effekt
Ja, ein relativ bekannter Fall. Allerdings würden mich hier die ganz genauen Statistiken interessieren (wobei der Wikipedia-Link schon mehr und andere Infos enthält als der ganze Teil des Buches der Autorin der diesem Thema gewidmet ist...eine Bestätigung mehr, dass ihr Buch bestenfalls in Teilen (und dann wohl auch nur für US-spezifische Bedingungen) akzeptabel ist, in anderen aber schlicht schlecht bis absurd ist). Insgesamt scheint mir Nachahmung in einem weiten Sinn eben schon eine gewichtigere Rolle zu spielen (wenn auch nur als mit verursachender Faktor) als es die Autorin nahe legt.
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Re: Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Balduin »

Links zu diesem Thema:

http://www.stefan-niggemeier.de/blog/18 ... rstattung/
http://www.stefan-niggemeier.de/blog/10629/mick-werup/
http://www.psychosoziale-gesundheit.net ... rther.html

zum Fall "Tod eines Schülers" gibt es eine Dissertation: Bitte die Suchworte "Schmidtke Häfner" googeln.
Girlxxx

Re: Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Girlxxx »

Balduin hat geschrieben:Links zu diesem Thema:

http://www.stefan-niggemeier.de/blog/18 ... rstattung/
http://www.stefan-niggemeier.de/blog/10629/mick-werup/
http://www.psychosoziale-gesundheit.net ... rther.html

zum Fall "Tod eines Schülers" gibt es eine Dissertation: Bitte die Suchworte "Schmidtke Häfner" googeln.
Danke für die Links. Nun, wenn dieser `Werther-Effekt` besteht, dann ist das was die Autorin Sarah Perry schreibt blanker Unsinn (ethisch entscheidend ist die Frage ob die `Ansteckung` ansonsten nicht verübte Suizide von Menschen mit ansonsten noch bevorstehendem lebenswertem Leben bewirkt, was natürlich eine noch schwieriger zu beantwortende Frage wäre als jene nach `Ansteckung` überhaupt. Denn selbst eine vermutete Zunahme der Suizide durch `Nachahmung` (basierend auf Statistiken) insgesamt, ist an sich noch ethisch wenig aussagekräftig, d.h. so oder anders interpretierbar). Ihre ausgesprochene These lautet ja, dass Suizidberichterstattung allenfalls sogar Suizide verhindert (dies basierend auf einer Studie mit einer geradezu grotesken (eigentlich so grotesk, dass ich einen Denkfehler bei mir vermuten muss) Kontroll-Gruppe, siehe oben). Auch hält sie gleich gar nichts von Empfehlungen bezüglich zurückhaltender Berichterstattung in Medien, interpretiert solches als blosser Zensurversuch einer Gesellschaft die ganz allgemein Suizide/ selbstbestimmtes Sterben verbieten/verhindern will.
Selbst im Detail widerspricht die Autorin gewissen Thesen in obigen Links. Dass sie `Ansteckung` auf Grund von Identifikation schlicht unerwähnt lässt (gerade bei Jugendlichen im Einzelfall wohl nicht zu vernachlässigen), ist ja auch mir recht schnell aufgefallen (dieser Faktor wird in obigen Links genannt).
Ob die eingebürgerte Kennzeichnung von Suizid-Nachahmung als `Werther-Effekt` inhaltlich korrekt ist, darf im übrigen bezweifelt werden...insofern es ja eine erfundene Geschichte war, keine Beschreibung eines echten Suizides (dass es damals Suizide `inspirierte` mag nachvollziehbar sein: keine Suizidnachrichten vermittelnde Massenmedien, romantisch-tragischer Kontext, (Zeit-)Geist der `Empfindsamkeit` etc.). Ob solches heute denkbar wäre, wohl kaum oder allenfalls als Einzelfall.

Werde evtl. noch einen letzten (kommentierten) Teil der Autorin Perry zum dazugehörigen Thema Suizid-Zensur inkl. ihrer zum Teil äusserst fragwürdigen und wie mir scheint tendenziösen Haltung diesbezüglich hinzufügen (ihre Hauptintention scheint mir die unbedingte Freigabe von Barbituraten zu sein...alles andere interpretiert sie so, dass es solcher Freigabeforderung als Argument dienen kann).
Girlxxx

Re: Suizid: Ursachen - Nachahmung - Evolution

Beitrag von Girlxxx »

Weitere Folgen entfallen wegen offensichtlich nicht vorhandenem Interesse.
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