Orgeluse hat geschrieben:Lieber Chron,
vermutlich geht das, was ich Dir nun gern sagen würde (zumindest "gern sagen würde", denn ob ich mich Dir verständlich machen kann, ist - wie immer bei solchen kommunikativen Akten - sehr fraglich),
vermutlich also geht das, was ich Dir nun zumindest gern sagen würde, vollkommen daneben.
Schön, dass du noch "da" (beim Forum) bist!
Mich beschleicht vor dem Lesen deiner Texte immer schon ein Lächeln - weil ich deinen Stil ja mittlerweile kenne (schreibst du eigentlich auch Bücher?). Mag sein, ich komme nicht immer zu den Wurzeln deiner dann so amüsant-schmunzelnd-witzelnd-weise formulierten Schlussfolgerungen und Vergleiche, aber wieso dieser ("vollkommene") Pessimismus?
Orgeluse hat geschrieben:
Du fragst nach dem Wort "Würde".
Das ist nicht nur ein Wort (wie "Smartphone", "KFZ", "Taschentuch"), sondern ein Begriff (= ein Konzept).
Ja, das vermute ich (mittlerweile) auch. Wobei auch Smartphone ja ein Konzept sein kann ... Aber das Wort ist gebräuchlicher.
"Würde" allein ginge ja noch einigermaßen, aber "menschenwürdig"? Das will mir einfach nicht "rein", wenn ich es direkt und nur kurz sehe/lese (und nicht "auseinandernehme", diskutiere, analysiere, wobei, wie hier auch, das Dignitas-Motto dann automatisch verändert wird; wohl kein Zufall).
Orgeluse hat geschrieben:"Die Würde des Menschen ist unantastbar". So lautet der 1. Satz des 1. Absatzes des 1. Artikels des Grundgesetzes der BRD. (Und ähnlich findet er sich in vielen anderen, meist europäischen, Verfassungen.)
So viel ich weiss steht in der CH-Bundesverfassung nichts von Würde (aber sicher bin ich mir nicht), dafür eingangs was von einem übermächtigen Herrn (was der angeblichen Religions-/[Un-]Glaubensfreiheit später im Text widerspricht). Und dass sich ein Volk daran messen lassen muss, wie es mit den Schwächsten umgeht, oder so ähnlich (das hingegen fand ich sehr schön). Ich hab's mal hervorgesucht:
http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/201303030000/101.pdf hat geschrieben:
Präambel
Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Das Schweizervolk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,
geben sich folgende Verfassung:
Und darin auf "Würde" gesucht:
http://www.admin.ch/opc/de/classified-compilation/19995395/201303030000/101.pdf hat geschrieben:
2. Titel: Grundrechte, Bürgerrechte und Sozialziele
1. Kapitel: Grundrechte
Art. 7 Menschen
würde
Die
Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.
...
Art. 118b Forschung am Menschen
1 Der Bund erlässt Vorschriften über die Forschung am Menschen, soweit der Schutz seiner
Würde und seiner Persönlichkeit es erfordert. Er wahrt dabei die Forschungsfreiheit und trägt der Bedeutung der Forschung für Gesundheit und Gesellschaft Rechnung.
...
Art. 119 Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich
1 Der Mensch ist vor Missbräuchen der Fortpflanzungsmedizin und der Gentechnologie geschützt.
2 Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit menschlichem Keim- und Erbgut. Er sorgt dabei für den Schutz der
Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Familie und beachtet insbesondere folgende Grundsätze:
a. Alle Arten des Klonens und Eingriffe in das Erbgut menschlicher Keimzellen und Embryonen sind unzulässig.
b. Nichtmenschliches Keim- und Erbgut darf nicht in menschliches Keimgut eingebracht oder mit ihm verschmolzen werden.
c. Die Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung dürfen nur angewendet werden, wenn die Unfruchtbarkeit oder die Gefahr der Übertragung einer schweren Krankheit nicht anders behoben werden kann, nicht aber um beim Kind bestimmte Eigenschaften herbeizuführen oder um Forschung zu betreiben; die Befruchtung menschlicher Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau ist nur unter den vom Gesetz festgelegten Bedingungen erlaubt; es dürfen nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als ihr sofort eingepflanzt werden können.
d. Die Embryonenspende und alle Arten von Leihmutterschaft sind unzulässig.
e. Mit menschlichem Keimgut und mit Erzeugnissen aus Embryonen darf kein Handel getrieben werden.
f. Das Erbgut einer Person darf nur untersucht, registriert oder offenbart werden, wenn die betroffene Person zustimmt oder das Gesetz es vorschreibt.
g. Jede Person hat Zugang zu den Daten über ihre Abstammung
...
Art. 119a Transplantationsmedizin
1 Der Bund erlässt Vorschriften auf dem Gebiet der Transplantation von Organen, Geweben und Zellen. Er sorgt dabei für den Schutz der
Menschenwürde, der Persönlichkeit und der Gesundheit.
2 Er legt insbesondere Kriterien für eine gerechte Zuteilung von Organen fest.
3 Die Spende von menschlichen Organen, Geweben und Zellen ist unentgeltlich. Der Handel mit menschlichen Organen ist verboten.
...
Art. 120 Gentechnologie im Ausserhumanbereich
1 Der Mensch und seine Umwelt sind vor Missbräuchen der Gentechnologie geschützt.
2 Der Bund erlässt Vorschriften über den Umgang mit Keim- und Erbgut von Tieren, Pflanzen und anderen Organismen. Er trägt dabei der
Würde der Kreatur sowie der Sicherheit von Mensch, Tier und Umwelt Rechnung und schützt die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenarten.
Hm... Also Würde eher beim Entstehen als beim Vergehen ... obwohl sie dann wiederum von Anfang an als gegeben angenommen wird ... oder irgendwie sowie ...
Das Deutsche ist klarer: Die "Würde des Menschen" (= menschenwürdig) wird als gegeben angenommen.
Allerdings vermute ich da dann später mancherlei Widersprüche, z. B. scheint mir Abtreibung dem zu widersprechen (wobei ich kein Abtreibungsgegner bin!).
Auch "unantastbar" ("IST unantastbar") ist allerhöchstens ein "frommer" (wenn auch nicht religiös formulierter) Wunsch: Was ist mit Morden, Zwangseinweisungen in Psychiatrien, Zwangsbehandlungen, ja überhaupt im Wortsinne jeglichem unerwünschtem Tasten an Körpern (durch Eltern, Schulsportlehrer, Polizisten oder was noch alles)? "... sollte sein" oder "... hätten wir gern ..." wäre da ehrlicher.
Was mich zu Grundfragen nach "Rechtsstaat" bringt (gehört die Verfassung als reine Meinungsäusserung/Wunsch dazu? Was ist, wenn Unrecht geschieht? "Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei" - wobei mir hierzu Deutschland rechtsstaatlicher erscheint als die Schweiz [mit div. Klagen gegen sie vor dem Europa-Gerichtshof ...]).
Orgeluse hat geschrieben:Das ist heutzutage in der BRD (einem sogen. säkularisierten Staat) keine religiöse, sondern eine rein weltlich-staatliche Fest-Stellung: "Die Würde des Menschen ist unantastbar".
Und diese konstruierte Seins-Beschreibung (also Fest-Stellung eines historisch und aktuell gewollten Sach-Verhaltes) steht in jenem Grundgesetz an allererster Stelle einer staatlichen Selbstbeschreibung und Selbstverpflichtung (so könnte man eine "Verfassung" vielleicht ein wenig salopp beschreiben).
Nun heisst das Dignitas-Motto aber ja nicht "Würde", sondern "menschenwürdig", also noch auf "würdig" gesucht in der CH-Verfassung:
Sieht ja schön aus - aber in den Kantonsverfassungen ist das weit weniger, als man meinen könnte, z. B. in der Zürcher (Sitz von Dignitas):
http://www.admin.ch/opc/de/federal-gazette/2005/5243.pdf hat geschrieben:
Art. 111
1 Kanton und Gemeinden sorgen dafür, dass Menschen in einer Notlage, die sie nicht aus eigener Kraft bewältigen können, ein Obdach und existenzsichernde Mittel erhalten.
2 Sie fördern die berufliche Umschulung und Weiterbildung erwerbsloser Personen und ihre Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess.
3 Sie fördern zur Bekämpfung von sozialer Not und Armut die Hilfe zur Selbsthilfe.
"Obdach" (buchstäblich ein Dach über/ob dem Kopf; keine Wohnung oder so) ist für meine Begriffe von "Würde" zu wenig, jedenfalls in einem solchen Land (in einem Tropenland mag das anders sein). Und "Hilfe zur Selbsthilfe" ist eben keine Hilfe (und sprachlicher Blödsinn), sondern heisst so viel wie "mach gefälligst selber" (Pech für dich, wenn du nicht [mehr] kannst und Hilfe bräuchtest). Und für die nicht Arbeitenden (Kranken, Behinderten, Alten, Kinder - die nicht arbeiten DÜRFEN -, Flüchtlinge - dürfen auch nicht) wird da gar nichts getan oder "vorgefasst(e Meinungen)" (
- passt zu "Verfassung"!).
So viel zum "CH-Grundgesetz", oder eben kein Gesetz, sondern eine "Verfassung" (auch so ein Wort, das normal ganz anders benutzt wird; man kann in schlechter oder guter Verfassung sein z. B. - aber es hat ja wohl Methode, dass man es nicht einfach so verstehen soll ... So kann man viele Wörter aneinanderreihen ohne einen Sinn zu produzieren ...).
Orgeluse hat geschrieben:Doch bei Begriffen, also nicht nur Wörtern, sondern bei Worten, an die im Laufe der Jahrtausende der Mensch komplexe Konzepte (= Vorstellungen vom Sein) angehängt hat (solche Begriffe wie "Würde", "Wahrheit", "Schönheit", "Qualität", "Kunst", "Wissenschaft", "Menschlichkeit", "Gerechtigkeit", "Schuld", "Verantwortung" etc.), - bei denen ist es nicht so einfach mit der "Erklärung".
Je nach dem - manche Wörter "sagen" mir spontan etwas, andere finde ich höchst dubios (z. B. "Menschlichkeit" - das ist ja einfach alles, was Menschen tun, egal ob man das gut oder schlecht findet).
Wobei ich allgemein Substantive abstrakter finde als Verben (Tätigkeitswörter). Jemanden würdigen z. B. - das wäre wohl eine Lobrede (wer sie verdient oder erkauft hat). Zwar ist "menschenwürdig" weder noch, aber doch wohl kein Zufall, hast du "Dingwörter" aufgezählt (wobei z. B. "schulden", jemandem etwas schulden, viel klarer ist als der abstrakte Begriff Schuld, oder sinnieren klarer als Sinn, usw.).
Orgeluse hat geschrieben:Denn an diese Worte, die über lange Zeit, z.T. über Jahrtausende hinweg, zu "Begriffen" geworden sind, hat sich all ihre begriffsbildende Geschichte angelagert.
Solche Worte sind Gebirge. Eine Bedeutungssedimentschicht lagert über der nächsten. Tausende von Zeitmetern hoch.
Also ist die Frage, sollte man mal das Gold in der Tiefe ausgraben - oder eher die sichtbare oberste Schicht wichtig finden? Ich denke letzteres (jedenfalls bei Sprachlichem wie Mottos [Motti? Grins - Ich denk gerade an Motten ... Und mag nicht nachsehen, wie die Mehrzahl "richtig" wäre]).
Orgeluse hat geschrieben:"Würde".
Das ist ein Wort aus einem der ethischen Gebirge. Die sind am höchsten und (interessanterweise) am ältesten: Dort sind die meisten Bedeutungsschichten zu finden.
Die "religiöse", die Du, lieber Chron, so prominent erwähnt hast (noch dazu nur die "katholische") ist eine ganz dünne Schicht innerhalb dieses Gebirges.
Wie viel älter ist denn das Wort "Würde" als die ca. 2000 Jahre des Christentums? (Damit dein Vergleich der ganz dünnen Schicht aufgeht.)
Und in welcher Sprache, müsste man dann auch noch fragen ... Dann aber verläuft es sich endgültig.
Orgeluse hat geschrieben:Doch selbst, wenn Du Dich daran machst, dieses Begriffsgebirge zu erklimmen: In diesen Bergen des menschlichen Herzens, in denen des Menschen Hirn schon so lange Bedeutungsschicht auf Bedeutungsschicht schiebt, wirst Du irgendwann verloren gehen. Oder Du wirst dessen gewahr, was ein "Begriff" auch sein kann:
Eine plötzlich aufflammende Erkenntnis.
Ich kann nicht erinnern, das Wort bzw. eines der Wörter (Würde, Menschenwürde, menschenwürdig) als Kind gehört und begriffen zu haben. Es gehört also nicht zum normalen, verbreiteten Sprachgebrauch. Wozu auf den höchsten Berg kraxeln? Wo es keine andern Menschen mehr gibt?
Orgeluse hat geschrieben:Eine, die nicht vermittelbar ist, keinem anderen Menschen mitteilbar.
Müsste es aber sein, wenn es ein Motto sein soll.
Aber ich finde es interessant, was mit einem solchen Wort ("menschenwürdig") und dessen Zusammenhang (leben/sterben) hier alles hervorkommt - für mich noch nicht gerade Erkenntnisse, aber das Ganze bekommt so wie ein Gewand.
Orgeluse hat geschrieben:- Der Witz: Diesen Moment, dieses plötzliche Aufflammen der Bedeutung eines Begriffes UND gleichzeitig seiner Unmitteilbarkeit - diesen Moment kennen viele Menschen.
Gruß in die lang schon zerstobene Runde (sie noch einmal beschwörend: Schattenwurf jener Flammen dort an dieser Wand! Und pf fort - - -)
Orgeluse
Den Witz habe ich zwar nicht verstanden, aber so allgemein, beim ersten Durchlesen, wieder ein