Heuchlerische Politik zum Thema Sterbehilfe

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Eagle
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Heuchlerische Politik zum Thema Sterbehilfe

Beitrag von Eagle »

http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,541944-2,00.html

STERBEHILFE
"Herr Präsident, helfen Sie mir zu sterben!"
Von Henning Lohse, Paris

Der Krebs fraß erst ihre Nase, dann ihren Kiefer, schließlich ihre Würde: Der Fall Chantal Sébire hat in Frankreich die Sterbehilfe-Diskussion neu entfacht. Jetzt hat die 52-Jährige in einem dramatischen Appell Präsident Sarkozy um Hilfe gebeten. Doch der Staatschef schweigt.


Paris - Es ist schier unerträglich, sie anzuschauen. Der Krebs hat ihre Nase aus dem Gesicht gefressen, stattdessen wuchert dort ein grotesk aufgeworfenes Geschwür. Auch die Augen sind davon überwachsen - welche Qualen sie aushalten muss, vermag man nur zu ahnen. Als die todkranke Chantal Sébire sich im Endstadium ihrer Krankheit dem Fernsehpublikum zeigte, war das eine Verzweiflungstat: "Die Schmerzen fressen mich von innen auf", sagte sie. "Ich bin diejenige, die leidet, und ich sollte entscheiden, wann dieses Leiden endet."


Vor acht Jahren diagnostizierten Ärzte bei Chantal Sébire, 52, eine sehr seltene und unheilbare Tumorerkrankung, ein Ästhesioneuroblastom. Die Medizin kennt nur einige Hundert Fälle weltweit.

Zuerst verlor die dunkelhaarige Frau ihren Geruchs- und Geschmackssinn, seit einigen Monaten ist sie erblindet. Hoffnung auf Heilung oder Linderung gibt es keine. Die Lehrerin kämpft nun für die Möglichkeit des selbstbestimmten Sterbens, dafür verließ sie ihr häusliches Versteck in Plombières-les-Dijon und sucht die Öffentlichkeit.

Im Streit um Sterbehilfe stehen Sébire im katholischen Frankreich mächtige Gegner gegenüber. Da ist zum einen die Kirche, die ihren Gläubigen kategorisch jede Hilfestellung im Sterbeprozess verbietet. Auch gesetzlich ist Sterbehilfe verboten, wenn auch das Verbot vor drei Jahren etwas gelockert wurde - Ärzte dürfen immerhin lebensverlängernde Maßnahmen absetzen, wenn der Patient dies wünscht. Eine Modifikation, die Chantal Sébire nicht hilft.


Chantal Sébire wandte sich mit einem offenen Brief an Staatspräsident Nicolas Sarkozy - hatte der nicht nach seinem Wahlsieg im Mai 2007 "allen Franzosen, die vom Leben zerbrochen wurden", Hilfe und Unterstützung zugesagt?

"Monsieur le Président, helfen Sie mir zu sterben!" lautete Sébires Appell an Sarkozy, der die 52-Jährige Ende Februar endgültig zur bekanntesten Patientin Frankreichs machte.

Ihrem Brief hatte Chantal Sébire auch das Video eines langen TV-Interviews beigelegt, in dem sie ihre Krankengeschichte schilderte. Der Präsident erfuhr so, dass "alles vor acht Jahren mit Nasenbluten begann". Chantal Sébire arbeitete als Lehrerin, ihre jüngste Tochter Mathilde war gerade fünf Jahre alt.

Sébires Leiden: Schlimmste Schmerzen, Morphium-Allergie

"Ich habe vor sechs Jahren zuerst den Geschmacks- und Geruchssinn verloren", berichtete Chantal Sébire mit ruhiger Stimme. Anschließend griff der Tumor ihren Kiefer an, fraß sich dann in die Augenhöhlen. "Im Oktober 2007 verlor ich schließlich das Augenlicht. Dazu kommen grauenhafte Schmerzen. Es fühlt sich an, als wenn Nadelspitzen tief in die Augen stechen. "


Was die Situation noch dramatischer macht: Die Patientin hat eine Allergie gegen Morphium entwickelt. "Ich bekämpfe meine Schmerzen mit einfachem Aspirin. Inzwischen habe ich keinen Oberkiefer mehr. Nur Gott weiß, wie meine restlichen Zähne noch halten. Seit acht Jahren kämpfe ich gegen die Krankheit. Ich will auf keinen Fall, dass der Tumor das letzte Wort hat."

Chantal Sébire weiß, dass ihr deformiertes Gesicht ihre stärkste und schrecklichste Waffe ist. Wenn man sie anschaut, versteht man, dass diese Frau ihr Leben nicht mehr leben möchte.

Sieben Neurochirurgen hat Chantal Sébire in den letzten Jahren aufgesucht, aber nur zwei waren überhaupt bereit, sie zu untersuchen. Beide bestätigten die unheilbare Krebserkrankung. Keine Hilfe möglich, weder mit Medikamenten noch mit Operationen oder Bestrahlung.

Die Macht der Bilder

Ihr Hausarzt Emmanuel Debost erklärte im Fernsehen, dass er die Leiden seiner Patientin "wegen der Gesetzeslage" nicht abkürzen könne. "Mein Gewissen gebietet mir, ihr zu helfen", sagte Debost, "aber ich kann keine Gefängnisstrafe riskieren."


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Auch Nicolas Sarkozy meint, nicht helfen zu können. "Der Präsident ist sehr erschüttert", ließ er von einem Sprecher ausrichten. Doch Sarkozy, für den die Überzeugung von der Macht der Bilder Dreh- und Angelpunkt seiner Politik ist, wird auch angesichts der Fotos von Chantal Sébire nicht aktiv. "Er will sich nicht in die Diskussion einschalten", sagte ein Mitarbeiter.

Sébire rief jetzt die Justiz an. Beim "Tribunal de Grande Instance" in Dijon hat sie eine Ausnahmegenehmigung beantragt. Sie fordert für ihren Arzt das Recht, "mir eine tödliche Substanz auszuhändigen, die ich einnehme, wenn ich es für richtig halte".

Justizministerin Rachida Dati hat vor der unabhängigen richterlichen Entscheidung schon einmal ein Nein angekündigt. Dati im Radiosender Europe 1: "Ich persönliche glaube, dass die Medizin nicht dazu da ist, tödliche Mittel zu verabreichen."

"Herr Präsident, helfen Sie mir zu sterben!"
Von Henning Lohse, Paris

2. Teil: Was die Politiker zu dem Fall sagen


Premierminister François Fillon äußerte Verständnis für den dramatischen Fall, stellte sich jedoch an die Seite seiner Ministerin. Der Regierungschef meinte, die Ärzte könnten Sébire nach einem richterlichen Nein vielleicht "ohne Wasser und Ernährung bis zum Tod in ein künstliches Koma versetzen".

Das hat Chantal Sébire sofort kategorisch abgelehnt. Sie will in Abstimmung mit ihren drei Kindern zu einem selbst gewählten Zeitpunkt bewusst aus dem Leben scheiden. "Mich betäuben zu lassen und dann den Krebs siegen zu lassen kommt nicht in Frage."


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Sébires älteste Tochter Valerie, 29, ist von Beruf Krankenschwester und unterstützt ihre Mutter: "Mama ist am Ende, sie ist müde, sie kann nicht mehr." Nach dem von der Familie herbeigesehnten Tod der Mutter wird sich Valerie mit ihrem Bruder Vincent, 27, um das 13-jährige Nesthäkchen Mathilde kümmern.

Keinen Trost konnte die katholische Kirche der Familie Sébire spenden. "Kein Mensch hat das Recht, einen anderen Menschen zu töten", bekräftigte der Erzbischof von Lyon, Philipppe Barbarin, noch am gestrigen Sonntag.

Die sehr katholisch auftretende Wohnungsbauministerin Christine Boutin fühlte sich offenbar verpflichtet - trotz der thematischen Ferne des Falls Sébire zu ihrem Geschäftsbereich - Stellung zu nehmen: "Man muss dieser Frau mit dem deformierten Gesicht sagen, dass sie noch geliebt wird", sagte die Ministerin. "Wie kann man glauben, dass Sterbehilfe ein Akt der Liebe sein kann?"

Eine Erklärung, die von Chantal Sébires Kindern mit Unverständnis und Entsetzen aufgenommen wurde. Chantal Sébire reagierte am Wochenende mit einem Telefonanruf in einer TV-Sendung. "Es geht mir nicht um mein entstelltes Gesicht. Ich leide so sehr unter Schmerzen: Deshalb rufe ich um Hilfe. Madame Boutin wünsche ich zum besseren Verständnis und ohne jede Böswilligkeit 24 Stunden meines Leidens."

"Heuchlerische Politik beim Thema Sterbehilfe"

Der Abgeordnete Jean Leonetti ist der Verfasser des Gesetzes zur Einstellung lebenserhaltender Maßnahmen und gilt als Instanz in dieser schwierigen Frage. Seiner Ansicht nach erbittet "diese krebskranke Frau von der Justiz Hilfe bei einem unzulässiges Wort", und das sei von seinem Gesetz nicht abgedeckt.

Chantal Sébire hat dem Abgeordneten sofort widersprochen. "Das ist keine Hilfe zum unzulässiges Wort, sondern ein Akt der Liebe, für mich ein Akt der Befreiung und der Begleitung. Ich will in Würde aus dem Leben scheiden und mich nicht von dem Tumor dahinraffen lassen. Das wäre die ultimative Niederlage gegen die Krankheit."

Im September 2007 war die französische Schauspielerin Maïa Simon zum Sterben in die Schweiz gereist. Sie litt auch an Krebs und hatte vergeblich in Frankreich Sterbehilfe gesucht. Kurz vor ihrem medizinisch unterstützten Freitod gab sie ein letztes Interview. Darin griff sie ihr Heimatland wegen seiner "heuchlerischen Politik beim Thema Sterbehilfe" an.

Chantal Sébire hofft mit ihrem Engagement den gesetzlichen Notstand in Frankreich zu beseitigen. "Für mich kommt eine Gesetzesänderung vielleicht zu spät, aber es gibt andere Menschen, die genauso leiden."
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