Suizid im öffentlich-rechtlichen TV

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Orgeluse
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Suizid im öffentlich-rechtlichen TV

Beitrag von Orgeluse »

Verehrte mehr oder minder suizidale Runde,

eine Fernsehproduktion der "öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten" der BRD, die heute (nein: gestern), am 18. Januar 2012 im Programm der ARD um 20:15 Uhr lief, lässt mich hier einmal wieder in die Tasten greifen.

Eine junge Mutter von zwei Kindern (das Mädchen in der Pubertät, der Junge so ca. Erst- bis Zweitklässler) und Ehefrau von liebenswertem Mann, die selbst Ärztin ist (Narkoseärztin im Krankenhaus), bringt sich um.
Mit einer selbstverabreichten Spritze, "durch die sie ganz sanft eingeschlafen ist". (Lechtz --- was bitte?! war das?!)

Diese Frau wird, so tot sie ist, die ganze Zeit über als "krank" verkauft, von ihrem Mann vorrangig. Als nämlich an der Krankheit "Depression" erkrankt. Ständig geht es bei den Rückblenden auch darum, ob sie ihre "Medikamente" nehmen würde und warum sie nicht "zum Arzt" gehen wolle. (Was in dem Fall damit erklärt wird, dass sie selbst Ärztin ist und ihre Approbation nicht verlieren wolle, wenn sie ihre "Krankheit" eingestünde.)
Kurzum: Das "Problem" dieser Frau wird kurzerhand zu einer "Krankheit" erklärt, die man mit dem entsprechenden "Medizineinsatz" beheben könne.

Sie hat sich vielleicht (das lässt der Film ein bissl offen ...) dagegen entschieden, ihre "Medikamente" zu nehmen, oder sie hat sich vielleicht trotz ihrer Medikamente entschieden, ihren eigenen Tod zu sterben. Jedenfalls hat sie sich umgebracht.

In dem Film taucht sie weitgehend nur als schweigender Geist auf, den ihre Kinder und ihr Mann imaginieren. Es geht also - aus meiner Sicht - in diesem Film nur um die sogen. Hinterbliebenen, nicht um die freidtodgestorbene Frau.

Warum ich das hier nun schreibe? Deshalb:
Ich werde keine Hinterbliebenen im gesetzlichen Sinne haben, wenn ich gehe (nur Freude, und die werd ich traurig machen, aber auch lachen lassen können). Insofern "betrifft" mich dieser Film nicht. Dennoch: Ich habe mich geärgert, wie mit unseren suizidalen Nöten und Wünschen und Bedenken dort umgegangen wurde - nämlich gar nicht! Die kommen nicht vor. Statt dessen spielen wieder nur die Übriggebliebenen eine Rolle, und ach, wie leiden sie doch soooo.

Hat noch jemand dieses Filmchen gesehen? Was meint Ihr?

Fragt müd im kleinen kammerton
orgel
Chron
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Re: Suizid im öffentlich-rechtlichen TV

Beitrag von Chron »

Ich habe den Film angekündigt gesehen (ein in einer Mail aufgetauchter neuer Thread mit entspr. Titel, der dann aber nicht [mehr] im Forum war), und habe mir schon sowas gedacht wie das, was du nun beschrieben hast. Ist ja auch nicht die erste Sendung über so etwas.

Viele Menschen lästern gern über Andere. Bilden (Meinungs-)Grüppchen über/gegen Andere. Über/gegen Tote ist das besonders leicht, denn die antworten nicht mehr, widersprechen/-schreiben nicht mehr, machen keine Verleumdungsklagen mehr usw.. Das sind ja dann auch keine (lebenden) Menschen mehr, sondern eben nur noch Erinnerungen bis Fantasien der Lebenden, bzw. in den Köpfen/Hirnen der Lebenden. Muss mit der (vergangenen) Realität nichts mehr zu tun haben.

Und ich habe den Eindruck, dass Sterbende/Sterbenwollende ebenso wie Tote von den meisten Leuten aus der Gemeinschaft der Lebenwollenden ausgegrenzt werden, bzw. in deren Denken in irgendeine Art Sonderschublade einsortiert werden. Man entspricht nicht mehr der (für mich unnachvollziehbaren) Norm, man müsse möglichst lange leben wollen (und behaupten, man lebe gut, im Lande x, etc. blabla) und können (die Behauptung verschrobener Mediziner mit der Einbildung bzw. dem Wahn, alles "heilen" zu können).

Ich hab den Film zwar als Video (aufgenommen/abkopiert), aber ich glaube derzeit eher nicht, dass ich mir den noch anschaue.
Deine Filmkritik genügt mir da völlig ;-).
Reload
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Re: Suizid im öffentlich-rechtlichen TV

Beitrag von Reload »

Orgeluse hat geschrieben:(...)Statt dessen spielen wieder nur die Übriggebliebenen eine Rolle, (...)l
Die muessen schliesslich auch weiterleben!
Balduin
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Re: Suizid im öffentlich-rechtlichen TV

Beitrag von Balduin »

Ich fand den Film „Der letzte schöne Tag“ recht gut. Er gefiel mir besser als „Im Winter ein Jahr“, wo man auch das Thema Suizid eines nahen Angehörigen – des Sohnes – aufgreift und das Leben der „Restfamilie“ beschreibt.

In „Der letzte schöne Tag“ wird die Mutter, die ihren Angehörigen enormen Schmerz zufügt, wegen ihrer Freitodentscheidung durchaus kritisiert, aber nicht nachhaltig verurteilt; das finde ich schon mal gut. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, wie schwer, schmerzhaft und lebensgefährlich die Erkrankung Depression und wie erfolglos letztlich die medikamentöse Behandlung sein kann. Die Mutter schreibt ja auch, dass sie sehr wohl wisse, was sie ihrer Familie antue. Aber die Krankheit sei stärker.

Die Hinterbliebenen, die „Weiterlebenden“, stehen in der Tat im Mittelpunkt der Handlung. Es ist nicht primär die Geschichte der Suizidentin, ihrer Erkrankung und ihrer Motive für den finalen Schritt. Der Film ist ruhig und bis auf einige (nachvollziehbare) emotionale Ausbrüche des Ehemannes und der Tochter frei von lauten Passagen.

Es ist sicher generell fraglich, ob eine Fernsehproduktion – zumal heutzutage, in der Zeit des abstürzenden Niveaus auf dem Bildschirm – ein solch heikles Thema auch nur annähernd angemessen und umfassend, mit der nötigen Tiefe und unter Berücksichtigung der Vielfalt der Problemstellung behandeln kann.

Die Suizidmethode der Ehefrau ist natürlich eine Art und Weise, die wir uns alle wünschen: Schnell und schmerzlos. Als Anästhesistin kennt sie die richtige Dosierung, kommt an alle erforderlichen Sedativa und injiziert sich die letale Mischung. Notfalls kann sie sich die Sachen selbst verschreiben. Es ist beinahe den Entschluss zum Freitod ein bisschen verharmlosend, zumal die Tote im Bestattungsinstitut eine recht "schöne Leiche" abgibt. Ein Kopfschuss oder ein Sprung vor den Zug hätte den Suizid wesentlich drastischer wirken lassen.

In dem Film wird gesagt, dass Lebensversicherungen bei Freitod zahlen, wenn zwischen Vertragsabschluss und Suizid mindestens drei Jahre liegen. Gehen wir mal davon aus, dass die Drehbuchautorin diesen Aspekt sauber recherchiert hat. Diese Sache wurde im Forum öfter diskutiert.

http://www.tittelbach.tv/programm/ferns ... -1779.html
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/m ... 10917.html
http://www.sueddeutsche.de/medien/ard-f ... -1.1260483

P.S. Der Film „Homevideo“ (ARD 2010) wird auch immer wieder gezeigt. Er schildert eine andere Facette aus der Welt des Suizids, den Freitod eines Heranwachsenden als Folge langen und schweren Mobbings durch seine Mitschüler.
Reload
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Re: Suizid im öffentlich-rechtlichen TV

Beitrag von Reload »

Gut an dem Film war auch die (wenn auch nebenbei ausgedrueckte) klare Position gegen aktive Sterbehilfe. Witzig auch der Hinweis des Schwiegervaters, dass das politisch korrekte "Suizid" nichts weiter als eben "Selbstm***" bedeutet. Gut auch die Erklaerung der Krankheit Depression, die manchem keinen Ausweg mehr laesst, gut aber auch, dass die Forderung anklang, trotzdem die Verantwortung fuer seine Kinder zu uebernehmen und zu leben. "unzulässiges Wort" wollte die Schwaegerin auf den Grabstein scheiben, dann las sie aber doch "Letztes Lied" von Mascha Kaleko vor, mit dessen Wiederholung dann der Film auch endete: am Schluss wird es versoehnlich, man lacht sogar wieder, so furchtbar wie der Film beginnt, endet er mit der Aussage "Das Leben geht weiter" - eigentlich ein Happy End, und da wird klar: wenn du tot bist, bist du tot, die anderen leben weiter und werden deine Stimme aus dem Anrufbeantworter loeschen! Das Leben hat keinen Sinn, aber der Tod auch nicht, denn er gehoert zum Leben.
Seelenschmerz
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Re: Suizid im öffentlich-rechtlichen TV

Beitrag von Seelenschmerz »

Der Film setzte halt erst mit dem Freitod der Frau ein und betrachtete die Perspektive der Hinterbliebenen, warum eigentlich nicht.
Hab schon Schlimmeres gesehen zu dem Thema. Besser neutral bleiben im Film, als jede Menge Vorurteile, Ignoranz, Intoleranz und geistigen Dünnschiss direkt zu den Nöten des Suizidalen zu bringen.

Dass ich mir in unserer Gesellschaft in mancher Hinsicht mehr Aufklärung, Wahrheit, Bewusstheit und Mut wünsche, statt Bigotterie, Feigheit, Tabuisierung, Vorurteile, das steht auf einem anderen Blatt.
Mit der Zeit erwarte ich aber in der Richtung immer weniger von anderen, und das ist eigentlich ganz gut für meine Gesundheit. Ein ordentliches Maß an Ent - täuschung, immerhin das Gegenteil von Täuschung, hat seine Vorteile. Man wird nicht 80 Millionen Deutsche zur Therapie schicken können.
memento mori
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Re: Suizid im öffentlich-rechtlichen TV

Beitrag von memento mori »

Ich habe den Film auch gesehen...
Besonders die Szene mit dem Pfarrer blieb mir im Gedächtnis:
Er sagte etwa "Es gibt gute Gründe warum der Suizid in der Gesellschaft ein Tabu ist und es auch bleiben müsse. Sie öffnen sonst eine Tür, die Sie nicht mehr zu bekommen. Auf einen Suizid folgt schon bald der nächste..."
garp53
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Re: Suizid im öffentlich-rechtlichen TV

Beitrag von garp53 »

Ich habe den Film auch gesehen. So sehr, wie ich Orgeluse ja durchaus schätze, aber die Kritik kann ich nicht teilen. Das, was Du forderst, Orgeluse, hat sich der Film bzw. das MacherInnenteam eben nicht als Aufgabe gestellt. Eine moralinsaure Verurteilung des Suizids konnte ich, so wie er gezeigt wurde, nicht erkennen. Als jemanden, der vor einem Jahr schon selbst kurz davor war und nun - leider - wieder Fühlung zu dem Thema aufnimmt, hat er mich jedenfalls sehr berührt.
garp53 = ex garp50
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