Die Sehnsucht und die Angst

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TraurigER
Beiträge: 147
Registriert: Samstag 27. März 2010, 12:12

Die Sehnsucht und die Angst

Beitrag von TraurigER »

Ich möchte sterben! Lieber heute als morgen. Am liebsten einschlafen und nicht wieder aufwachen, aber das wird nicht passieren. Ich bin 40, da hat man dieses Glück im Regelfall noch nicht.
Ich bin nicht gläubig, ich glaube weder an ein Leben nach dem Tod, noch ans Paradies, noch an Wiedergeburt oder irgendwas in der Art. Ich glaube daran, dass ich einst ein Orgasmus meines Vaters war, der in der Eizelle meiner Mutter gelandet ist. Vorher war ich nicht da, nachher werde ich nicht mehr da sein. Soviel dazu.

Ich möchte sterben, aber ich habe Angst vor dem Tod. Ich werde nicht mehr existieren, so wie ich vor meiner Geburt nicht existiert habe, aber ich habe vor diesem Nichtsein Angst. Geht es euch genau so? An sich ist diese Angst völlig irrational, denn sterben werden wir alle irgendwann, der Tod ist unausweichlich, also wieso ihn fürchten???
Orgeluse
Beiträge: 864
Registriert: Dienstag 23. November 2010, 00:04

Re: Die Sehnsucht und die Angst

Beitrag von Orgeluse »

@ TraurigER

Zunächst finde ich es irgendwie schön, dass Du Dir tatsächlich vorstellen kannst, ein "Orgasmus" Deines Vaters gewesen zu sein. Das hat etwas Tröstliches. Denn vermutlich ist es in den meisten Fällen (jedenfalls der gezeugten Kinder, die heute 40+ sind) wohl deutlich anders: Einer Ejakulation (der Du zweifelsohne Deine Existenz verdankst/schuldest) geht ja keinesfalls ein Orgasmus parallel. (Aber ich bin nicht O. Kolle, selig.)

Dann habe ich ein vielleicht hübsches Zitat von Jean Améry ("Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod", 1. Aufl. Stuttgart 1976 - und für unsereins immer noch aktuell, und ich bin immer noch nicht durch):
"Dem Suizidär ist bange. Ihm, der den Ekel mit mehr oder weniger Intensität stets verspürt hat, wird der échet (dt. Scheitern, Misslingen u.s.w.) IM Leben und DES Lebens zur vollkommenen Abscheulichkeit, die zurückzuweisen er gesonnen ist: In Stolz und Trauer. Er schlägt sich auf die Seite jener winzigen MInorität derer, die nicht mehr mitmachen wollen und die jeder Tropf feige nennt, als ob es höheren Mut geben könne, als der es ist, der dem Ursprung jeglicher Angst, der Todesangst, die Stirn bietet. Die Tapferkeit des Suizidärs ist nicht Hochmut, wohlverstanden. Stets wohnt ihr auch jene Spur von Scham inne, die als Derivat der Lebenslogik den Menschen vor dem Absprung fragen macht, warum gerade er nicht aushalten, durchhalten könne, wo doch die anderen ..." (S. 57)
Es handle sich beim Freitod um ein "zweifach Undenkbares [...]: Um den TOD, den jedermann stirbt und den jeder als Urwiderspruch* mehr oder weniger bewußt erfährt, darüber hinaus aber um den FREITOD. Dieser verursacht den Urwiderspruch aufzuheben, war ihm nicht gelingen kann." (S. 39)
* "Mein Tod [hier der sogen. natürliche Tod - Einfügung Orgeluse] ist jenseits von Logik und Gewohnheitsdenken, für mich widernatürlich im höchsten Grade, ist vernunft- und lebensverletztend.", S. 49)

Also ab "aus der Absurdität des Daseins in die Absurdität des Nichts" (S. 55) ??? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur immer stärker, dass es einer Unbedingtheit bedarf, um von eigener Hand zu sterben. Und langen Überlegens. (Ein Kurzschluss-Suizid ist für mich kein Freitod.)

Lieber Traurige,
bedenke, was Du bist, was Du warst und was Du (alles!) sein könntest.
Und dann wähle zwischen Leben und Tod.

Einen vielleicht etwas Améry-trunkenen Gruß
Orgeluse
Chron
Beiträge: 642
Registriert: Samstag 10. Juli 2010, 20:56

Re: Die Sehnsucht und die Angst

Beitrag von Chron »

TraurigER hat geschrieben: Ich werde nicht mehr existieren, so wie ich vor meiner Geburt nicht existiert habe, aber ich habe vor diesem Nichtsein Angst. Geht es euch genau so?
Nein, diese Angst kenne oder habe ich nicht, denn nach dem Tod bin ich nicht mehr und kann nichts mehr wahrnehmen (mit nicht mehr funktionierendem Hirn ja logisch); kein Sein oder Nichtsein, keine Angst oder sonst irgend etwas; gar nichts.

Es ist nicht dasselbe wie vor der Geburt, denn vor der Geburt gab es noch einige Monate im Mutterleib und das gibt es nach dem Tod nicht mehr.

Aus heutiger Sicht, mit noch denkendem Hirn, ist nach meinem Tod nicht dasselbe wie vor meiner Zeugung. Denn nach meinem Tod habe ich im Gegensatz zu vor meiner Zeugung gelebt, es hat mich gegeben - das wissen dann aber nur noch Andere. Und das kümmert mich dann nicht mehr, denn dann weiss "ich" (nicht mehr lebend, nicht mehr denkend) nichts mehr; eben: bin nicht mehr, denke nicht mehr, fühle nicht mehr. Nur noch ein toter Körper - für Andere. Und deren Erinnerung. Die ich dann auch nicht mehr weiss.
aliquis

Re: Die Sehnsucht und die Angst

Beitrag von aliquis »

@TraurigER

Du sprichst mir aus der Seele.
livorna
Beiträge: 102
Registriert: Montag 20. Dezember 2010, 23:03

Re: Die Sehnsucht und die Angst

Beitrag von livorna »

Genau dieses Nichtsein ist es, worauf ich mich freue. Bei mir ist es so, als wäre ich schon tot, nicht da, nicht existent oder wie auch immer. Nur ich merke es noch, eben weil ich noche lebe. Und wenn ich die Schmerzen usw nicht mehr aushalten muss, und wirklich das alles los bin und da nichts mehr ist, ist das für mich das größte Geschenk. Keine Gefühle mehr, einfach "Ruhe". Ich stelle mir das toll vor!
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